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Der Blick in Richtung Alexanderplatz.

© imago/Rolf Zöllner

Station meines Lebens: Stalin und die Zuckerbäcker

Auf der Karl-Marx-Allee zwischen Alex und Frankfurter Tor liegt eine so unscheinbare wie unterschätzte Haltestelle, inklusive gleichnamiger Kneipe: die Weberwiese.

Von Jan Schroeder

Stand:

Als ich im Sommer 2021 für ein halbes Jahr an die Weberwiese zog, war mir die Häme von Freunden und Bekannten gewiss. Friedrichshain galt da dem Klischee nach schon als langweilig und neureich. Der vielleicht einzige Unterschied zu Prenzlauer Berg, hieß es, sei die Nachbarschaft von technosüchtigen Single-Yuppies anstelle deren Variante mit Kinderwagen.
Dabei wäre Prenzlauer Berg auch okay gewesen. Nach einigen Monaten verzweifelter Wohnungssuche war ich bereit, jedes Loch anzumieten, das nicht in Blankenfelde-Mahlow oder Reinickendorf liegt und einigermaßen bezahlbar ist. Dass das hinter den Bauten an der ehemaligen Stalinallee zwischen Weberwiese und dem Frankfurter Tor gelang – Zufall.

Beim Einzug mit zwei Ikea-Tüten unter den Armen identifizierte mein Nachbar mich sofort augenzwinkernd als „Wessi“.

Jan Schroeder

Die ehemaligen sogenannten „Paläste für die Arbeiterklasse“ entlang der Karl-Marx-Allee sind heute weder prunkvoll noch proletarisch. In meinem neuen Zuhause erinnert neben grauen Fassaden und hellhörigen Wänden nur noch ein alteingesessener Nachbar – Schiebermütze, Kippe im Mund – an die Blüte des DDR-Selbstbewusstseins. Beim Einzug identifizierte er mich mit meinen Ikea-Tüten unter den Armen sofort augenzwinkernd als „Wessi“.

Die Menschen wie das Viertel wurden mir schnell sympathisch. Noch heute genieße ich den weiten Blick vom Café K. Liebling aus unmittelbar vor meiner alten Haustür bis zum Strausberger Platz und die Frankfurter Allee runter. In der Ferne der große Verkehrskreisel, hinter mir die hohen Türme am Eingang der Karl-Marx-Allee.

Eigentlich lag die U-Bahnstation Frankfurter Tor näher, ich entschied mich aber regelmäßig für den etwas längeren Fußweg zur Weberwiese. Halb, um nicht zusammen mit den Pilgern, die in Richtung Simon-Dach-Straße wollten oder besoffen von dort zurückkamen, aus- oder einsteigen zu müssen. Halb, um ein bisschen auf der Karl-Marx-Allee zu spazieren.

Die Weberwiese ist vielleicht einer der wenigen Orte in Berlin, der einem das Gefühl vermittelt, mitten in einer Großstadt zu sein, ohne von Menschenmassen bedrängt zu werden. Die großen, blockförmigen Bauten mit ihren überdimensionierten Eingangstüren passen zu den hohen Decken der U-Bahnstation und vermitteln insgesamt das Gefühl eines anderen, unzeitgemäßen Maßstabs.

Der kitschige Zuckerbäcker-Stil erinnert an Sisi und Franzl. Und besonders der gepflegte, nach englischem Landschaftsbau aussehende Rosengarten direkt an der Haltestelle macht den Eindruck einer Requisite aus einem Freiluftmuseum.

Bestechend ist der Charme der keine 50 Meter von der Haltestelle entfernten, etwas versteckten Kneipe „Gaststätte Weberwiese“ mit einem Eintracht-Frankfurt-Fan als Wirt. Die Pinte ist natürlich verraucht, man spielt Darts oder schaut Bundesliga. Alle trinken eigentlich nur Pils, so als gäbe es nichts anderes. Jedes mal aufs Neue meine ich, hier an diesem Ort – an anderer Stelle vielleicht, in Frankfurt, Köln oder sonst wo – schon zigmal gewesen zu sein.

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