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Früher sicherte das Öl vom schwarz gefärbten Maracaibo-See Existenzen. Heute gelangt es nicht mehr durch die maroden Pipelines.

© imago/ZUMA Press

Erdöl: Venezuelas Zündstoff

In den Raffinerien spielen die Arbeiter Domino, draußen hungern ihre Kinder. Venezuela sitzt auf einem der weltgrößten Ölschätze - und kann ihn nicht heben.

Die eine Hand reicht dem Tankwart einen wertlosen Bolívar-Schein, die andere hält einen Becher mit billigem Rum. Esteban López nimmt einen Schluck, dreht den Zündschlüssel und tritt aufs Gas. „Alle wollen Benzin“, sagt er, „aber sie haben keine Ahnung, wo es herkommt.“ Er weiß es. Im Handschuhfach liegt sein Arbeitsausweis der Erdölraffinerie Amuay.

Die Plastikkarte verschafft ihm Zugang zu einem Ort, an dem all das zusammenzulaufen scheint, was sein Land und dessen Bewohner in immer schneller werdendem Tempo in den Untergang führt. Ein Land, unter dem Erdöl lagert, das gleichzeitig aber Benzin importieren muss.

Esteban López, Dreitagebart, Brille mit gelb getönten Gläsern vor verschwitztem Gesicht, lebt auf der karibischen Halbinsel Paraguaná im Westen Venezuelas. Hier versucht er, für das Überleben seiner Familie zu sorgen. „Jeden Morgen ist es, als stiege ich in einen Boxring.“

Er kämpft gegen den Zusammenbruch der Ölindustrie – von der die gesamte Volkswirtschaft Venezuelas abhängt. Trotz Währungsreform im August 2018 verdient Esteban López umgerechnet nur 15 US-Dollar monatlich. Davor waren es vier. „Wir sollten alles privatisieren, dann gibt es auch wieder gut bezahlte Jobs.“ Die Tankstelle verschwindet langsam im Rückspiegel.

Bald darauf hält Esteban López, der nicht möchte, dass sein tatsächlicher Name öffentlich wird, vor dem Haupttor der Raffinerie. PDVSA steht darüber, Petróleos de Venezuela S.A.; weiße Buchstaben auf rotem Grund, eingerahmt von Palmen. Seit 2003 arbeitet López hier. „Seit 2012 sagen sie, die Raffinerien rentieren sich nicht mehr.“ Sie, das sind die Chavisten in der Raffinerie, die Unterstützer von Präsident Nicolás Maduro und dessen sozialistischer Regierungspartei PSUV.

Spezialisten gehen, Ungelernte bleiben

Der 42-Jährige will anschaulich machen, wie das Staatsunternehmen die Anlagen im vergangenen Jahrzehnt abgewirtschaftet hat. Die Raffinerie Amuay arbeitet nur noch bei einem Drittel ihrer Leistungsfähigkeit. Zugleich fließt das Rohöl spärlich, die Förderung ist so gering wie seit den 1950er Jahren nicht mehr. Im Vergleich zu 2013, als der ehemalige Präsident Hugo Chávez starb, fördert nur noch ein Drittel der Bohrlöcher etwas, 1,45 Millionen Fass pro Tag. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich im Vergleich zu Chávez’ Todesjahr in etwa halbiert.

Die Lebensmittelproduktion reicht nicht aus, die Menschen zu ernähren, für Importe fehlt das Geld. In den vergangenen drei Jahren haben zehn Prozent der Bevölkerung das Land verlassen.
Die Lebensmittelproduktion reicht nicht aus, die Menschen zu ernähren, für Importe fehlt das Geld. In den vergangenen drei Jahren haben zehn Prozent der Bevölkerung das Land verlassen.

© Roland Peters

Die landeseigene Lebensmittelproduktion reicht nicht aus, um die Bevölkerung zu ernähren, für Importe fehlt das Geld. 4,5 Millionen Menschen litten 2017 an Mangelernährung. Zwei Drittel der Einwohner verloren in dieser Zeit im Schnitt 11,4 Kilogramm ihres Körpergewichts, so beziffert es eine Studie der venezolanischen Zentraluniversität UCV. Hunderttausenden Kindern drohe der Hungertod, warnt die Caritas. Die Menschen wandern aus.

Von 2015 bis Ende 2018 flohen laut dem Flüchtlingshilfswerk UNHCR drei Millionen Menschen aus Venezuela, fast zehn Prozent der Bevölkerung. Von 146.000 PDVSA-Mitarbeitern im Jahr 2016 sind noch 106.000 da, schätzt die auf Energiewirtschaft spezialisierte Beratungsfirma IPD Latin America. Spezialisten, die schwer zu ersetzen sind, gehen. Ungelernte bleiben.

Esteban López würde vielleicht seinen Arbeitsplatz verlieren, sollte er sich zu erkennen geben. Er könnte auch ins Gefängnis kommen, verschwinden, sterben wie andere Oppositionelle. Doch er will reden darüber, weil er manchmal nicht weiß, wie er etwas zu essen kaufen soll. Weil die Wasserhähne zu Hause in der angrenzenden Stadt Punto Fijo manchmal einen Monat lang trocken bleiben, niemand den Müll abholt, man ihm nachts vor seinem Haus die Räder vom Auto stiehlt. Ein Reifen war im Mai das Fünfzigfache eines monatlichen Mindestlohns wert. Der Internationale Währungsfonds beziffert die voraussichtliche Inflationsrate für dieses Jahr auf mehr als eine Million Prozent.

Einst produzierte keine Raffinerie der Welt mehr

„Ich habe keine Zukunft“, sagt López. „Ich fühle kaum noch etwas.“ Da sein Einkommen nicht ausreicht, lebt eine seiner Töchter bei ihrer Großmutter. Er hat noch seine Schwester, die im Ausland lebt. Wenn sie Geld überweist, ist es ein beschämender Festtag. Früher, da flog Esteban López von seinem Gehalt zu ihr in den Urlaub, wanderte in den Schweizer Alpen und träumte davon, was Venezuela von Europa lernen könnte. Heute kann er sich nicht einmal mehr leisten, in die Hauptstadt Caracas zu fahren.

Er setzt die Sonnenbrille ab, greift nach seinem Handy und zeigt die Bilder, die er malte, als er noch Farben hatte. Wüstengewächse in Acryl. Niemand möge diese Pflanzen so richtig, sagt er. Aber sie bräuchten keine Zuneigung, sie würden ohnehin nur den Mangel kennen. „Manchmal“, sagt Esteban López, „fühle ich mich wie ein Kaktus.“

Raffination ist in Venezuela ein Verlustgeschäft. Auch aus Angst vor Aufständen verschenkt die sozialistische Regierung das Benzin der PDVSA praktisch an die Bevölkerung und muss weiteres importieren, weil die Produktion für den eigenen Verbrauch nicht ausreicht. Damit Amuay Benzin herstellen kann, fließt Öl vom Maracaibo-See in der benachbarten Region Zulia durch zwei Pipelines nach Norden. Bei ihrer Eröffnung vor fast 70 Jahren produzierte keine Raffinerie der Welt mehr. Doch die alten Quellen liefern immer weniger, weil ihre Instandhaltung vernachlässigt wurde. Die letzten werden sich in 30, 40 Jahren erschöpft haben.

Als Rettung für die ölfixierte Wirtschaft Venezuelas gilt der Orinoco-Gürtel – ein mehr als 600 Kilometer langer Streifen nördlich des Orinoco – im Landesinnern; ein riesiges Ölfeld mit Reserven für Hunderte Jahre Förderung. Der Staat hat jedoch kaum Geld für Investitionen.

Manche kommen nur noch wegen des Betriebsessens

Eine andere Möglichkeit wären Privatinvestitionen, die kein Tabu für die sozialistische Führung sind. Aber internationalen Ölkonzernen ist die Lage im Land viel zu instabil. Schon einmal verloren sie Milliarden am Orinoco, weil Chávez im Handstreich die Regeln änderte und Firmeneigentum verstaatlichte.

Das Gelände von Amuay macht den Eindruck, aufgegeben worden zu sein. Wachtürme sind mit Holzplatten verrammelt.
Das Gelände von Amuay macht den Eindruck, aufgegeben worden zu sein. Wachtürme sind mit Holzplatten verrammelt.

© Roland Peters

Esteban López biegt ab auf eine Straße, die außen um die Anlage herumführt. Von da aus deutet er auf die Destillerie, das Herz der Raffinerie. Dort arbeitet er, dort wird Benzin aus dem Rohöl gewonnen; oder anders: sollte gewonnen werden. „Alles in der Raffinerie ist kaputt“, sagt er.

Er erzählt, dass die Raffinerie seit fast zehn Jahren nicht mehr richtig gewartet werde. Dass Öl vom Maracaibo-See kaum noch herkäme und jenes vom Orinoco, das teerartig ist, die Anlagen zerfrisst.

Arbeiter spielen den ganzen Tag Domino, sagt Lopez, andere Kollegen tauchen nur noch wegen des Betriebsessens auf, ihre Kinder warten hungrig vor den Toren. Statt Arbeitseinsatz werde Parteitreue anerkannt. Dass die Arbeitsmoral in der Raffinerie fragwürdig ist und die Anlagen in schlechtem Zustand sind, sagt auch der regierungstreue Chef der Ölarbeitergewerkschaft.

Umschlossen von Mauern und Zäunen macht das Gelände von Amuay in der Nachmittagssonne den Eindruck, aufgegeben worden zu sein. Wachtürme sind mit Holzplatten verrammelt. Der Karibikwind drückt Plastiktüten gegen die Maschendrahttore. Wie eine offene Wunde liegen die Fundamente einer Polizeiwache da, die 2012 von einer Gasexplosion fortgefegt wurde. Damals starben 55 Menschen. Eine riesige Fackel lodert, die Raffinerie muss überschüssige Gase verbrennen: Methan, Propan, Butan. Sie können nicht mehr für den Verkauf abgefüllt werden, weil die nötigen Kompressoren fehlen. Als Nächstes zeigt Esteban López auf einen großen weißen Tank. Darauf steht weithin sichtbar „Refinar con seguridad es nuestra prioridad“, sicher zu raffinieren ist unsere Priorität. López sagt, an der Explosion vor sechs Jahren seien fehlende Ersatzteile schuld gewesen.

Die Raffinerie muss überschüssige Gase verbrennen: Methan, Propan und Butan können nicht mehr für den Verkauf abgefüllt werden, weil die nötigen Kompressoren fehlen.
Die Raffinerie muss überschüssige Gase verbrennen: Methan, Propan und Butan können nicht mehr für den Verkauf abgefüllt werden, weil die nötigen Kompressoren fehlen.

© Roland Peters

Das Geld ging aus. Man druckte Neues

Eine von Amuays drei Destillerien funktioniert einigermaßen zuverlässig. Die größte wird aus Furcht vor Explosionen immer wieder angehalten. In der dritten „bekam ein Wärmetauscher ein Loch, wegen des Drucks wurde es größer, das austretende Öl entzündete sich und steckte Benzin daneben in Brand.“ Seither steht die Anlage still.

Kurz nach der Jahrtausendwende erwarteten internationale Analysten wegen steigender Nachfrage auf Jahrzehnte einen Ölpreis von mindestens 100 Dollar pro Fass. Die PDVSA begann, am Orinoco zu investieren, propagierte „Weitsicht für Nation, Volk und Revolution“ und versprach, das Öl in den Dienst aller zu stellen. Die alten Quellen waren nicht mehr wichtig.

Mit deren Rohöleinnahmen finanzierte das Unternehmen aber zum Beispiel Sozialwohnungen. Es subventionierte den Komplex in Paraguaná und damit das Benzin der Bevölkerung. Im Jahr 2008 kamen die Finanzkrise und der Fracking-Öl-Boom in den USA. Das Angebot wuchs, der Ölpreis sank, doch die PDVSA blieb bei ihrer Strategie und Venezuela verschuldete sich. Dem Land ging das Geld aus, es druckte neues.

Der Sündenfall jedoch ist für heutige Oppositionelle Chávez’ Machtkampf gegen die Ölindustrie in den Jahren 2001 bis 2003. Die PDVSA war im Jahr 1976 verstaatlicht worden, aber ihre Manager führten die Gesellschaft weiterhin wie ein Privatunternehmen. Chávez erhöhte per Dekret die Abgaben auf Ölförderung für verbliebene Privatunternehmen und schrieb eine staatliche Mehrheitsbeteiligung vor. Dann installierte er regierungstreue Manager bei der PDVSA. Erst putschte das Militär erfolglos gegen das Staatsoberhaupt, dann legten Wirtschaftsverbände gemeinsam mit wieder eingesetzten marktliberalen PDVSA-Managern monatelang die Produktion der Ölgesellschaft und damit das Land lahm, um Chávez handlungsunfähig zu machen. Vergeblich. Chávez kündigte 18.000 Mitarbeitern. Heute, eineinhalb Jahrzehnte später, lenken regierungstreue Armeeoffiziere die PDVSA.

"Uns gefällt nicht, wie Du denkst"

Einer der von Chávez vor dem Putsch eingesetzten Vorstände war Carlos Mendoza. „Ich habe heute ein paar Mangos gesammelt, etwas gelesen und Musik gehört, nun bin ich in meinem Garten“, brummt die Stimme des 76-Jährigen freudig aus dem Telefon. Manchmal bricht die Leitung ins südliche Caracas ab. Mendoza erzählt, wie er als junger Mann in den venezolanischen Bergen als revolutionärer Kommunist kämpfte, ins Gefängnis und sowjetische Exil musste, zurückkehrte und sich für den Sozialismus engagierte, Wirtschaft studierte und lehrte. Dann machte Chávez ihn zum Manager bei der PDVSA.

Die gute Laune verfliegt, als Mendoza auf die Ursachen des Niedergangs der Raffinerie und der Ölindustrie zu sprechen kommt. „Wir haben im Orinoco-Gürtel eine der größten Reserven der Welt, warum sollten wir nicht auch der größte Produzent werden?“ – dies sei die Firmenstrategie gewesen. Dafür sollte die Produktion von 2015 bis 2019 um vier Millionen Fass pro Tag gesteigert werden. Carlos Mendoza spricht jetzt sehr laut. „Eine illusorische Planung, die uns ins Unglück gestürzt hat. Als wenn ein Entchen schwanger werden könnte!“

Auch internationale Akteure haben sich Illusionen gemacht. Niemand hat mit dem Fracking-Boom in den USA gerechnet.
Auch internationale Akteure haben sich Illusionen gemacht. Niemand hat mit dem Fracking-Boom in den USA gerechnet.

© Roland Peters

„Auch internationale Akteure haben sich Illusionen gemacht“, sagt Mendoza. Man sei davon ausgegangen, dass sich die Reserven des sogenannten leichteren Öls weltweit erschöpfen würden und die Förderung des schweren, schwefelhaltigen ausgebaut würde. Niemand habe mit dem Fracking-Boom in den USA gerechnet. „Venezuela ist die Titanic, das Schiff sinkt und die Ölpolitik ist das Orchester.“

Irgendwann, es muss 2010 gewesen sein, wurde Esteban López von seinem Posten abgeholt. Ein Soldat sperrte ihn in einen engen Raum und verhörte ihn. „Uns gefällt nicht, wie du denkst, haben sie mir gesagt.“ Er passe sich zu wenig an, stelle zu viele Fragen. Esteban López redete sich irgendwie heraus. „Du lernst, mit der Heuchelei zu leben.“

Im Jahr des Verhörs, erzählt er weiter, sei in der Raffinerie der Strom ausgefallen. Leitungen verstopften. „Wir konnten sie mit viel Aufwand reinigen und haben dem Unternehmen viel Zeit und Geld gespart.“ Als er den Bericht darüber einreichte, beschimpfte sein Chef ihn. Er sei während des Stromausfalls nicht bei einer politischen Veranstaltung gewesen, um Mitglied der Regierungspartei PSUV zu werden. Esteban López tippt sich an die Schläfe. „Seither bin ich überzeugt, dass sie verrückt sind.“

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