Gesundheit: „Die Nobelpreise gehören ganz Berlin“
Der ehemalige Wissenschaftssenator George Turner über Chancen und Risiken der Hauptstadt-Universitäten
Sie haben schon Anfang der 70er Jahre mehr Wirtschaftlichkeit und ein Management nach dem Stil von Unternehmen an den Universitäten gefordert. Sehen Sie sich heute als Rufer in der Wüste oder bestätigt?
Eher Letzteres. Es gab Gegner aus den unterschiedlichsten Positionen. Aus der Hochschule selbst, wegen der befürchteten Transparenz, vor allem aber in den Ministerien, weil mehr Ökonomie auch bedeutet, der Hochschulleitung mehr Kompetenzen zu übertragen. Aber der Fortschritt ist eine Schnecke, und manchmal bewegt sie sich sogar rückwärts.
Sie meinen, so wie heute?
Nein, da sind doch ganz beachtliche Schritte eingeleitet worden. Durchaus unterschiedlich in den verschiedenen Ländern, aber insgesamt stimmt das eher froh.
Wo sind die Fortschritte am größten, wo ist der Rückstand?
In Baden-Württemberg scheinen die Fortschritte am größten zu sein, aber die gehen mir da schon ein bisschen zu weit. Wenn dort die Hochschule einen Vorstand und einen Aufsichtsrat bekommt, suggeriert das etwas, das gar nicht geleistet werden kann. Hochschulen sind keine Wirtschaftsunternehmen. Man kann bestimmte Grundsätze übernehmen, aber man kann es nicht eins zu eins übertragen. Die Ziele sind andere. Ein Wirtschaftsunternehmen muss in erster Linie Gewinn erzielen, eine Hochschule gute Leistungen in Lehre und Forschung. Davon abgesehen werden es sich die Professoren nicht gefallen lassen, entmündigt zu werden.
Aber die Berliner Hochschulen zum Beispiel haben sich erst durch das Hereinholen von Vertretern der Wirtschaft und herausragenden Persönlichkeiten in die Gremien über die Stadt hinaus orientiert.
Das ist ja auch völlig in Ordnung. Aber die Übernahme der Prinzipien der Wirtschaft halte ich für problematisch.
Und wo der Rückstand am größten?
Also, Berlin ist dabei. Es gibt hier noch Altlasten, die nicht abgearbeitet sind. Die 68er, die noch im System sind und im Übrigen auch durchaus einiges Positives beigetragen haben, vertreten eine ganz andere Vorstellung von Universität. Da herrscht nicht überall Dynamik. Hinzu kommt, dass sich die Berliner Universitäten zuweilen gegenseitig blockieren. Manche Überlegungen, wie man wirtschaftlicher mit den Ressourcen umgehen kann, sind auf halbem Weg stecken geblieben, auch, weil die Politik den entscheidenden Schritt nicht getan hat.
Aber die Leistungssteigerung der Berliner Universitäten ist erkennbar. Sie könnten in einem Elitewettbewerb erfolgreich abschneiden.
Ja, mindestens die Humboldt-Universität ist da mit im Rennen. Aber ob das ausschließlich eine Frage der Leistung ist, möchte ich bezweifeln. Da gibt es auch andere Universitäten, die ebenso gut sind. Nehmen wir nur mal an, die HU hätte während der DDR-Zeit einen sozialistischen Namen bekommen. Die Ausstrahlung wäre sicher eine andere.
Außer Humboldt – welche Hochschulen zählen Sie noch zu den Spitzen-Unis?
Genannt werden Heidelberg, Aachen, Dresden, München… Aber ist Heidelberg besser als Tübingen oder Freiburg? Eher nicht, jedoch hat Heidelberg einen ähnlichen Bonus wie die HU: den Namen. Den kennen die Leute in aller Welt.
Zurück nach Berlin: Wie beurteilen Sie den Versuch des Wissenschaftssenators, mit alten Rezepten wie der Viertelparität auf die neuen Herausforderungen zu antworten?
Das ist eine ideologische Verengung, um eine bestimmte Klientel zu bedienen. Das kann den Universitäten gewaltig schaden. Es muss nicht alles sein wie in Baden-Württemberg, aber das ist hier ein ganz anderer Weg. Da können Humboldt- und Freie Universität noch so gut sein, das bringt sofort einen Malus mit sich, wenn sich ein Land so töricht verhält.
Sie haben vorhin davon gesprochen, dass sich die Berliner Hochschulen gegenseitig blockieren. Wäre es besser, sie würden sich zusammentun?
Ja, aber in Grenzen. Im Vergleich zu früheren Jahren hat sich da ja auch schon Beachtliches getan. Aber es gibt noch Bereiche, in denen die Abstimmung besser sein könnte. Zum Beispiel: Wer an einer Universität eingeschrieben ist, ist zugleich auch Student an einer der anderen Universitäten. Ein Studentenausweis genügt für die Benutzung aller Bibliotheken. Solche technischen Dinge sind sinnvoll.
Die Präsidenten von HU und FU streiten um die Nobelpreisträger der alten Berliner Hochschule. Wem gehören sie denn nun?
Keinem! Man kann doch nicht ernsthaft sagen, dass die HU in einer ungebrochenen Kontinuität zur Friedrich-Wilhelms-Universität steht. Und genauso wenig kann man das von der FU sagen. Soweit die Wissenschaftler an der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gearbeitet haben, kann man sie der Max-Planck-Gesellschaft zurechnen. Die Preise gehören ganz Berlin.
Einer „Berlin University“ vielleicht, wie sie die Hauptstadtkommission gerade vorgeschlagen hat?
Davon halte ich nicht sehr viel. Das ist weder praktisch, noch erforderlich. Der Vorschlag macht doch nur deutlich, dass der Wissenschaftssenator seine koordinierende Aufgabe nicht wahrnimmt. Alle Studenten, das ganze Personal – alles in eine Einheit? Das funktioniert nicht.
Und in Kalifornien? Klappt das da nicht?
Das Beispiel Kalifornien ist nicht übertragbar. Die einzelnen Einrichtungen dort sind absolut autonom. Die Spitze der „University of California“ hat eine koordinierende Funktion. Das ist dort auch nötig, weil sie zwar Schwarzenegger als Gouverneur haben, aber keinen Wissenschaftssenator wie hier.
Wir haben ja in Berlin im Grunde zwei Senatoren, die auch Wissenschaft machen: Kultursenator Flierl, der zuständig ist, und Finanzsenator Sarrazin, der sich zuständig macht. Welcher ist besser?
Die Schwäche des Kultursenators führt dazu, dass der Finanzsenator in das Vakuum stößt. Gott sei Dank gibt es ihn, im Interesse der ganzen Stadt. Gelegentlich geht er zu weit. Aber wenn der zuständige Senator die notwendige Koordination nicht vornimmt, macht es eben ein anderer. Und wenn der zuständige Senator Gesetze macht, die wie die Viertelparität so schädlich sind, dann ist mir die Politik von Sarrazin doch um vieles lieber. Noch lieber wäre es mir allerdings, es gäbe einen Senator, der alleine für Wissenschaft zuständig ist.
Das verhindert die Verfassung. Die Zahl der Senatoren ist auf acht begrenzt.
Dieser Beschluss der damaligen großen Koalition erweist sich heute als ausgesprochen problematisch.
Gäbe es denn eine andere Kombination, die Sie für besser hielten als die mit der Kultur – zum Beispiel mit Wirtschaft?
Da bin ich absolut dagegen. Die Konkurrenz innerhalb eines solchen Ressorts wäre noch größer als heute, und zwar zu Lasten der Wissenschaft. Im Zweifel würde, zum Beispiel bei Investitionen, immer zu Gunsten der Wirtschaft entschieden. Ein Ressort „Wirtschaft und Wissenschaft“ hielte ich für schlicht falsch.
Die Zahl der Studienplätze in Berlin ist in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen, obwohl die Stadt ein Bildungsstandort sein will. Wie viele Studenten sollte Berlin ausbilden?
So viele wie möglich. Studenten sind die besten Botschafter, vor allem im Ausland. Auch deswegen ist die ganze Bedarfsberechnung, ausgerichtet an einem regionalen Markt, zu eng. Die Prognosen stimmen ohnehin meistens nicht. Ich halte es zum Beispiel für einen Fehler, die Agrarwirtschaft einzustellen. Berlin braucht das Fach nicht, aber im Ausland ist es gefragt. Wenn wir Entwicklungshilfe betreiben wollen, braucht man das.
Lassen Sie uns noch zu den Massen-Universitäten kommen, zu Reformen wie Bachelor und Master.
Spätestens seit den 70er Jahren wusste man, dass eine Ausbildung gebraucht wird, die einen brauchbaren Abschluss nach drei oder vier Jahren ermöglicht. Nur hat man früher von Kurz- und Langstudiengängen geredet. Der Begriff „kurz“ war schlecht, und deswegen wurde das Konzept nicht angenommen. Alle waren dagegen. Es ist fast tragisch, dass die Gesamthochschule in ein parteipolitisches Fahrwasser gekommen ist. Das ist heute bei der Diskussion um gestufte Studiengänge besser. Aber der Bachelor muss so konzipiert werden, dass er zum Beruf befähigt.
Was ist der Vorteil gegenüber dem Diplom?
Ich sehe den Effekt darin, dass überhaupt schon mal über Studienzeitverkürzung nachgedacht wird. Sie können den Universitäten nicht allein die Studienreform überlassen. Die können es einfach nicht, weil es zu viele fachliche Egoismen gibt. Wenn die Konzeption von Studiengängen den Fakultäten überlassen wird, braucht man eine Vorgabe, sechs oder acht Semester. Dann muss überlegt werden: Was gehört in die sechs Semester? Diejenigen, die den Bachelor anstreben, sollten zunächst ganz simples Handwerkszeug lernen. Wir haben es bisher völlig anders gemacht. In den ersten Semestern Jura zum Beispiel den Studierenden römische und deutsche Rechtsgeschichte angeboten. Da schalten sie auf Durchzug, weil sie sagen: Brauche ich ja gar nicht, ist auch kein Prüfungsfach.
Wie könnte neue Bewegung in die Bildungspolitik kommen?
Es ist ja nicht so, dass sich nichts bewegt. Auch die Bundesbildungsministerin bewegt etwas, wenn auch nicht immer in die richtige Richtung. Aber eine Erkenntnis aus der Vergangenheit ist: Die Bildungspolitik wird nie wieder nur in eine Richtung gehen. Es gibt kein einheitliches Bild von dem, was Universität sein soll. Die Vorstellungen sind nicht nur in den Parteien unterschiedlich, sondern bei allen, die Interessen an diesem Bereich haben.
Was war der größte Fehler der Bildungspolitik der vergangenen Jahrzehnte?
Dass nicht die Fachhochschulen ausgebaut wurden, sondern die Universitäten. Und in der Folge richten sich die Fachhochschulen immer mehr aus wie Unis. Da tut sich eine Lücke auf.
Viele Hochschulen klagen darüber, dass die Abiturienten nicht genug wissen, um in der Universität zu bestehen. In Baden-Württemberg wird überlegt, ein halbjähriges Propädeutikum, ein Vorsemester, einzuführen. Was halten Sie davon?
Wenn es ein Defizit gibt, muss das die Schule ausgleichen. Außerdem gibt es bereits spezifische Kurse an den Hochschulen, um bestimmtes Wissen nachzuholen.
Zum Schluss noch einmal zurück zu den Eliteuniversitäten. Wie bekommen wir sie?
Wenn man 16 Elite-Universitäten herauskristallisieren könnte, wäre das Problem gelöst. Aber wenn eine Regelung zwischen Bund und Ländern kommt, nach der nur bestimmte Universitäten – vielleicht fünf bis zehn – besonders gefördert werden, wird das nicht akzeptiert. Jedes Bundesland wird mindestens eine haben wollen. Welcher Ministerpräsident eines Landes könnte zu Hause berichten: Von uns ist keine dabei?
George Turner war von 1970 bis 1986 Präsident der Universität Hohenheim und von 1979 bis 1983 Präsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz. Von 1986 bis 1989 war er parteiloser Senator für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin. Seit mehr als zehn Jahren moderiert er den „Treffpunkt Tagesspiegel“. Heute wird er 70 Jahre alt. Mit George Turner sprachen Gerd Appenzeller, Lorenz Maroldt und Uwe Schlicht. Das Foto machte Kai-Uwe Heinrich.
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