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Gesundheit: Gott ist die Vernunft

War Kant ein Atheist? Eine neue Interpretation seines Denkens

Wenn Heinrich Heine die Kantische Philosophie erklären wollte, dann pflegte er vom Diener Lampe zu erzählen. Kant hätte die Untauglichkeit aller Vernunftbeweise für die Existenz Gottes nachgewiesen, dann aber eingesehen, dass er damit seinem alten Diener nicht kommen konnte.

Eine hübsche Geschichte, aber zweifellos meinte Kant sein „bloß“ praktisch-moralisches Postulat vom Dasein Gottes ebenso ernst wie seine Destruktion der theoretischen Gottesbeweise. Vielleicht gibt es den Argumentationsbruch, auf den Heine hinweisen wollte, ja auch gar nicht. Gerhard Schwarz, ein Nachwuchswissenschaftler der Technischen Universität Berlin, hat jetzt die „Kritik der praktischen Vernunft“ im Lichte von Kants nachgelassenen Notizen, des sogenannten „Opus postumum“, neu gelesen. Sein Ergebnis: Der „Gott“, den Kant als Welturheber und als Garanten einer dem Sittengesetz angemessenen Glückseligkeit postuliert, ist kein Wesen außerhalb der Menschheit, sondern identisch mit des Menschen „reiner praktischer Vernunft“.

In Kants eigenen Worten aus dem Nachlass: „Gott muss nicht als Substanz außer mir vorgestellt werden, sondern als das höchste moralische Prinzip in mir.“ Das schlägt aller Kant-Interpretation, wie sie seit zweihundert Jahren an Schulen und Universitäten gepflegt wird, ins Gesicht: Danach nämlich geht es Kant vielmehr um die Endlichkeit aller menschlichen Vernunft. Das Opus postumum wurde niemals so recht ernst genommen, eher als betrübliches Zeugnis nachlassender geistiger Kräfte gewertet.

Ganz anders bei Gerhard Schwarz: Was Kant in diesen Notizen niedergelegt hat, müsse bereits in der „Kritik der praktischen Vernunft“ zwölf oder 15 Jahre zuvor unterstellt werden: der Mensch als ein zwar endliches, seiner moralischen Anlage nach aber nicht-endliches Wesen. „Est Deus in nobis“, es ist ein Gott in uns, hat Kant selbst seine Aussage formuliert. Allerdings, räumt Schwarz ein, „hatte Kant offenbar kein großes Interesse daran, diese Aspekte deutlich zur Darstellung zu bringen“. Ein äußerlicher Grund dafür liegt auf der Hand: Kirchliche und staatliche Obrigkeit hätten sofort den Vorwurf des Atheismus erhoben.

Was Schwarz als Resümee von Kants Gedankengängen zusammenfasst, liest sich streckenweise so, als ginge es vielmehr um Ludwig Feuerbach, irgendwo auf dem Weg von Hegel zu Marx: „Religion wird als ein Verhältnis des Menschen zu sich selbst aufgefasst, das vom Menschen irrtümlich für ein Verhältnis zu einer von ihm verschiedenen Macht gehalten wird.“ Näher betrachtet, ist die Parallele zu Feuerbach eher oberflächlich: Kants Idee vom Menschen wird nicht allein durch die Erfahrung bestimmt, sondern durch das „Sollen“, das die reine praktische Vernunft vorgibt. Eine – wenn man so will: „göttliche“ – Autorität, die zu bezweifeln ihm nie in den Sinn gekommen wäre.

Schwarz hat sich alle weiterreichenden Spekulationen verboten, es geht ihm ausdrücklich nicht darum, „mit Kant über Kant hinaus“ zu denken. Interessant wäre aber auch, „zurück“ zu denken, auf Kants eigene Voraussetzungen hin. Ob dem Philosophen – aufgewachsen in pietistischer Frömmigkeit – immer so ganz wohl war bei den Folgerungen, zu denen ihn sein Denken führte? Ein Blick in Luthers Bibelübersetzung mag ihm Rückhalt gegeben haben: „Das Reich Gottes ist inwendig in euch.“

Gerhard Schwarz: Est Deus in nobis. Die Identität von Gott und reiner praktischer Vernunft in Immanuel Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (ISBN 3-7983-1924-3). Verlag TU Berlin, 19,90 Euro.

Josef Tutsch

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