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Gesundheit: Schlag nach bei Karl Marx

Auf dem Studentenkongreß "Bildung und Gesellschaft" wird nach Verbündeten und Theorien gesucht / Viele Teilnehmer scheuen abgenutzte Ideologien nichtVON UWE SCHLICHT"Küßt die Politiker, wo immer ihr sie trefft." Das steht auf einem Transparent am Eingang zur Humboldt-Universität.

Auf dem Studentenkongreß "Bildung und Gesellschaft" wird nach Verbündeten und Theorien gesucht / Viele Teilnehmer scheuen abgenutzte Ideologien nichtVON UWE SCHLICHT"Küßt die Politiker, wo immer ihr sie trefft." Das steht auf einem Transparent am Eingang zur Humboldt-Universität.Es soll die Passanten auf den Studentenkongreß aufmerksam machen, der am Donnerstag in der Technischen Universität begann und gestern in der Humboldt-Uni fortgesetzt wurde.Die Aufschrift des Transparentes trifft die Tendenz des Kongresses genauso wie die Aussagen eines zweiten Spruchbandes, das ebenfalls am Eingang hängt: "Wider die deutsche Standortlogik." Die Küsse für die Politiker sind ironisch gemeint und bringen all das, was die Studenten bisher erlebt haben, auf den Punkt: Es gab Verständniserklärungen der Politiker im Übermaß, als der Studentenprotest im November begann, aber sie blieben bisher fast folgenlos. Die andere Aussage zielt direkt auf die Absicht des Studentenkongresses, der ein Resümee aus den bisherigen Protesterfahrungen ziehen will: In welchem gesellschaftlichen Zusammenhang steht die Vernachlässigung der Bildungspolitik, woher kommen die sozialen Probleme der hohen Arbeitslosigkeit und wo sind die Verbündeten in der Gesellschaft zu suchen, damit der Studentenprotest nicht verpufft? Im Auditorium maximum ging die Diskussion am Freitag vormittag vor etwa 800 Studenten hin und her.Die meisten Redner entdeckten den Marxismus, um Antworten auf wirtschafliche und soziale Fragen von heute zu suchen.Karl Marx habe gesagt, daß die Befreiung der Arbeiterklasse die Arbeiter selbst in die Hand nehmen müßten.Die Globalisierung sei nur ein Aspekt der Krise des Kapitalismus.Die Studenten müßten zusammen mit Verbündeten in anderen sozialen Schichten handeln, bevor allen das letzte Hemd ausgezogen werde. Ein Student aus Frankfurt am Main wies darauf hin, daß die sozialen Interessen nicht über die Parlamente durchzusetzen seien, weil die Industrieunternehmen bei einer zu starken Belastung, zum Beispiel durch ökologische Abgaben, jederzeit mit der Verlagerung ihres Standortes ins Ausland drohen würden.Die Studenten sollten den sozialen Unmut in der Bevölkerung aufgreifen und auf die Aussage von Karl Marx vertrauen, daß der Kapitalismus seine eigenen Totengräber erzeuge. Ein anderer Redner erinnerte daran, daß es schon einmal während der Weltwirtschaftskrise zu einer sozialen Deklassierung gekommen sei, aber der Gewinner dieser Deklassierung sei der Faschismus gewesen, und zwar deswegen, weil es den Linken an der richtigen Perspektive gefehlt habe.Weitere Studenten übten Kritik an der Profitwirtschaft, die durch den Druck von basisdemokratischen Bewegungen in eine Bedarfsgesellschaft umgewandelt werden müßte, an deren Ende die Vergesellschaftung der Produktionsmittel stehen müsse. Eine Studentin erntete viel Beifall, als sie feststellte: "Ich finde, der Kapitalismus ist unmenschlich." Aber sie empfahl kein bloßes Zurück zu einem "Sozialismus, den es nie gegeben hat".Im Vordergrund dürfe nicht nur das Geld stehen, sondern ein Wandel des Wertesystems.Die Menschen dürften nicht ständiges Wachstum fordern und dafür die knappen Ressourcen vergeuden, sondern sie müßten von innen wachsen. Starken Beifall fand der als Referent eingeladene Marxist Dieter Klein, der schon in DDR-Zeiten an der Humboldt-Universität gelehrt hatte und in den letzten Jahren der DDR zu jenen Reformern um André Brie gehörte, die über eine Änderung des Sozialismus nachgedacht hatten.Klein appellierte an die Studenten, sich nicht in Scharmützeln für ihre Interessen zu verlieren, sondern nach Verbündeten unter den sozialen Gruppen zu suchen.Wenn es nicht gelinge, eine Gegenmacht aufzubauen, laufe der studentische Protest Gefahr, zurückzufallen.Nötig sei ein Brückenschlag zur Frauenbewegung, zur "Agenda 21", zu Gewerkschaften und sozialen Bewegungen wie den Arbeitslosen oder ökologischen Gruppen.Diesen sozialen Bewegungen müsse eine dauerhafte intellektuelle Hilfe angeboten werden.In diesem Sinne könne die Intelligenz von Studenten und Wissenschaftlern zu einem Störfaktor werden, um Entwürfe für eine bessere Gesellschaft zu entwickeln.Die Studenten sollten die Professoren zwingen, sich nicht in hochspezialisierte Einzelgebiete zurückzuziehen, sondern Querschnittsbezüge zwischen den Disziplinen aufzuzeigen.Außerdem müsse Druck auf die Politiker ausgeübt werden, damit auch auf europäischer Ebene endlich soziale Standards durchgesetzt werden.Klein warnte vor einem zu kurzfristigen Denken etwa in dem Sinne, daß man in der nächsten Zeit aus dem Kapitalismus herausspringen könne.Aber schon heute müsse man einiges "im Kapitalismus tun, damit wir eines Tages aus ihm herauskommen". Als wichtigen Ansatz für eine solche Strategie empfahl Dieter Klein den ökologischen Umbau der Gesellschaft zum Beispiel durch eine Energiesteuer.Man müsse die Menschen umorientieren, damit sie nicht mehr der neuesten Mode nacheifern und diese an die Stelle der letzten Mode setzen, sondern mehr auf soziale Gerechtigkeit blicken.Nicht länger dürfe der Profit das Denken bestimmen, sondern "wir brauchen eine demokratische, soziale und ökologische Alternative" und damit eine neue Rationalität. Der seit der 68er-Bewegung bekannte linke Wirtschaftstheoretiker Klaus Kisker von der Freien Universität - ein ebenfalls von den Veranstaltern eingeladener Referent - appellierte an die Studenten, sich nicht "vollkleistern zu lassen" von dem Begriff der Globalisierung.Schon immer sei der Kapitalismus international gewesen, und die Globalisierung sei nichts anderes als Klassenkampf von oben.In Wirklichkeit gehe es heute darum, daß der Kapitalismus die Erfolge, die die Gewerkschaften in den Kämpfen der Vergangenheit errungen hätten, um soziale Elemente einzuführen, wieder rückgängig machen wolle.Damit bekomme der Kapitalismus wieder ein asoziales und inhumanes Gesicht.Dagegen gelte es, Widerstand zu leisten, und die Studenten müßten im Bündnis mit anderen die Systemänderung in eine andere Richtung lenken. Trotz des starken Beifalls für Kisker und Klein mahnte ein Student ebenfalls unter Beifall zur Besonnenheit: Es wäre zwar leicht, im Auditorium maximum der Humboldt-Uni eine Mehrheit zur Überwindung des Kapitalismus zu finden, aber die Macht zu einer wirklichen Veränderung hätten die Studenten nicht.Sie müßten sich daher nach Verbündeten umsehen, um langfristig mehrheitsfähig zu werden.Damit leitete er über zu den allgemeinen Zielen, die sich der Studentenkongreß gesetzt hat: Wie der Protest über die Streikwochen in diesem Winter hinaus zu einer dauerhaften Bewegung werden kann.Mit roten Fahnen in die Betriebe zu gehen - warnte ein anderer Student -, sei wohl dafür kein Erfolgsrezept.Vielmehr müßten die Studenten eine Sprache finden, die auch die Arbeiter verstehen und mit ihnen gemeinsame Interessen formulieren, mit denen sich die Menschen identifizieren könnten.Und ein dritter Student warnte davor, ständig auf Karl Marx hinzuweisen.Heute werde ein "neues Konzept" gebraucht.

UWE SCHLICHT

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