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Gesundheit: Wilde Samariter

Nächstenliebe und Mitleid im Tierreich: Selbst Ratten lässt der fremde Schmerz nicht kalt

Auf der ganzen Welt haben die Bilder der Katastrophe tiefe Anteilnahme und das Verlangen nach tätiger Nächstenliebe ausgelöst. Mit dem Wunsch, den Notleidenden beizustehen, steht der Mensch aber keineswegs in der Natur allein. Auch Tiere empfinden Mitgefühl und den Drang, andere von ihrem Kummer zu erlösen.

„Es ist klar, dass ein Schimpanse niemals in einen kalten See springen würde, um einen anderen Affen zu retten“, argumentierte erst kürzlich der Harvard-Psychologe Jerome Kagan. Doch der renommierte Forscher hatte die Rechnung ohne ein Schimpansenmännchen auf einer amerikanischen Zooinsel gemacht. Als es merkte, wie eine ungeschickte Affenmutter ihr Kleinkind ins Wasser fallen ließ, stürzte es sich ins Wasser und hauchte bei dem verzweifelten Rettungsversuch sein Leben aus.

Das edelmütige Verhalten ist keine Ausnahmeerscheinung in der Fauna, so die Bilanz von Frans de Waal, Verhaltensforscher am Primaten-Forschungszentrum der Emory-Universität in Atlanta in den USA. Mehrere systematische Experimente und viele Einzelbeobachtungen führen alle zum gleichen Schluss: Fremde Not überträgt sich selbst auf einfach gestrickte Tiere und regt zu praktischem Hilfehandeln an.

Ausgerechnet bei der angeblich „verkommenen“ Ratte finden sich früheste Spuren von Mitgefühl. Die betreffenden Versuche, die aus den 60er-Jahren stammen und in Vergessenheit gerieten, würden heute vermutlich am Tierschutz scheitern. Lerntheoretiker hatten die Nagetiere darauf konditioniert, einen Hebel zu drücken, um in den Genuss einer leckeren Speise zu gelangen. Doch dann bekam eine andere Ratte bei dem Hebeldruck einen elektrischen Schock verpasst.

Als sie gewahr wurden, was sie anrichteten, hörten die Versuchstiere schlagartig zu drücken auf. Wie es aussieht, bereitet Ratten das Leid einer anderen Ratte Unbehagen. Zwar erlahmte die Anteilnahme nach mehreren Durchgängen, und die Tiere besannen sich wieder auf das Hebeldrücken. Doch das anfängliche, spontane Mitgefühl ist nach Ansicht des Primatenforschers nicht wegzuleugnen. Die ständige Konfrontation mit fremdem Elend kann auch unserem Mitgefühl einen Dämpfer aufsetzen.

In einem weiteren Experiment sahen die Tiere einen Artgenossen, der jämmerlich quiekend an einer Halterung über dem Boden hing. Durch einen Hebeldruck ließ sich das Häufchen Elend behutsam auf den Boden setzen. „Spontan und ohne die geringste Anleitung sprangen die Tiere dem leidendem Gegenüber bei und verabreichten den erlösenden Hebeldruck“, resümiert de Waal.

Der Anblick eines Artgenossen, den die Forscher mit elektrischen Schlägen malträtierten, vertrieb indes die Samariterhaltung. Statt die Taste zu drücken, zogen sich die verängstigten Tiere wie gelähmt in eine Ecke zurück. Auch beim Menschen kann starker Stress die Hilfsbereitschaft lähmen.

Noch „menschlicher“ verhielten sich Rhesusaffen. Jedes Mal, wenn die Primaten sich mit einem Tastendruck Futter bestellten, wurde ein anderer Rhesusaffe mit Elektroschocks traktiert. Eines der Tiere verzichtete lieber fünf Tage auf Essen, als seinen Artgenossen leiden zu sehen. Ein anderes trat sogar für zwölf Tage in Hungerstreik.

Die Versuchsreihe musste schließlich abgebrochen werden, rekapituliert de Waal. „Die Tiere hungerten sich lieber zu Tode, als das Leid ihres Artgenossen über sich ergehen zu lassen. Und sie verfolgten diese Haltung viel entschlossener als Nagetiere.“

Affen bringen auch behinderten Artgenossen erhebliche Güte entgegen. Das Makakenweibchen Azalea etwa wurde trotz seiner genetisch bedingten geistigen Behinderung von der Horde unterstützend aufgenommen.

Zwei handfeste Beispiele tierischer Nächstenliebe wurden bei Flusspferden festgehalten. Eines rückte aufgebracht einem Krokodil zu Leibe, das gerade ein Impala zwischen seinen Hauern hielt. „Nachdem das Krokodil die Antilope freigelassen hatte, geleitete sein Retter sie in Sicherheit und leckte sogar ihre Wunden.“ Der andere Zwischenfall betraf eine Impala-Antilope, die sich von Wildhunden gehetzt in einen Fluss flüchtete. Das Tier machte schlapp, aber es wurde von einem Flusspferd behutsam ans andere Ufer geschleppt.

Mitgefühl ist wohl doch keine hoch entwickelte Sonderleistung, die erst mit dem Menschen auf der Bildfläche der Evolution erschien. Wahrscheinlich besteht diese Tugend aus unterschiedlichen, gewachsenen Schichten, die wie die Schalen einer Zwiebel übereinander pappen, postuliert de Waal. Auf der innersten, und damit ältesten Ebene findet lediglich eine Art Gefühlsübertragung vom Opfer auf den Betrachter statt, verbunden mit dem dumpfen Impuls, das Unwohlsein abzuschalten. Die jüngste Schicht befähigt ihren Besitzer, sich flexibel in den anderen einzufühlen und sich die Welt im Geist aus seiner Perspektive anzusehen.

Was es bedeutet, eine fremde Perspektive einzunehmen, demonstrierte das Bonoboweibchen Kuni in einem britischen Zoo. Eines Tages entdeckte es einen verletzten Starenvogel. Behutsam trug Kuni das Tier davon, erkletterte einen Baum, breitete vorsichtig die Flügel des Staren aus und schleuderte ihn mit größtmöglicher Kraft über die Umzäunung hinweg.

Der Akt verrät ein erhebliches Einfühlungsvermögen, meint de Waal. „Da sie bereits häufig Vögel fliegen gesehen hatte, schien sie eine ziemlich genaue Vorstellung davon zu haben, was für einen Vogel gut ist.“ Bei einem Artgenossen wäre diese Hilfsmaßnahme völlig ungeeignet gewesen.

Gewisse Formen der Nächstenliebe setzen hohes Einfühlungsvermögen voraus. So etwa das „Trostverhalten“: Es kommt immer wieder vor, dass Schimpansen den Arm um einen Artgenossen legen, der bei einem Streit eine Niederlage erlitten hat. Im Gegensatz zu den Menschenaffen wurde so etwas bei Tieraffen noch nie gesehen. Doch unsere besten Seiten sind bereits in der emotionalen Matrix unserer tierischen Verwandtschaft angelegt. Diese Einsicht nimmt dem Menschen ein wenig vom Glanz, moralisch einzigartig zu sein. Aber sie tröstet ihn auch mit der Gewissheit, in den Tiefen seines Herzens mit dem Rest der Schöpfung im gleichen Boot zu sitzen.

Rolf Degen

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