
© Wallstein Verlag/Björn Klein
Henning Ziebritzkis Essayband „Gar nicht viel“: Rettende Unterschiede
Kleine, überaus detailgenaue Erzählungen aus dem Leben eines Jedermanns: Der niedersächsische Lyriker Henning Ziebritzki verrät, welche Gedichte und welche Prosa ihn beeindruckt haben.
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Gar nicht viel Zeit verbringt ein Lyriker in aller Regel mit dem, was doch für ihn das Wichtigste sein sollte: dem Schreiben seiner Gedichte. Sie kommen, wann sie wollen, und viel häufiger bleiben sie aus. Die reichlich verbleibende Zeit ist angefüllt mit Alltagsverrichtungen, einem Brotberuf, mit Nachdenken – und Lesen, vor allem das. Es ist das Angewiesensein auf Poesie, das den Lyriker, die Lyrikerin am Laufen hält – sie ist der letzte Mensch mit Buch in einer Straßenbahn, versäumt immer wieder die Haltestelle und liest sogar noch auf der Rolltreppe weiter.
Zibritzki ist Huchel-Preisträger
Als einen solchen Büchermenschen dürfen wir uns Henning Ziebritzki denken, der für seinen Gedichtband „Vogelwerk“ (2019) mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet wurde und nun einen Band mit Essays über Poesie folgen lässt, in dem er über sein eigenes Schreiben kein Wort verliert. Stattdessen legt er eindrucksvoll dar, wie bestimmte Gedichte ihm aus mancher Bedrückung halfen, welche Bücher er mit auf eine Reise nimmt und welche Verse er sich in schlaflosen Nächten ins Gedächtnis ruft.
Ziebritzkis Essays sind kleine, überaus detailgenaue Erzählungen aus einem Leben, das beinahe unser eigenes sein könnte. Sie schildern beiläufige Situationen, in denen das Gedicht den rettenden Unterschied macht. An einem überfüllten Boulevard in Ljubljana, auf der Suche nach einem freien Tisch zum Abendessen und mit den Gedichten Anja Zag Golobs in der Tasche, wird das Zerlegen des Wortes Zunge in seine Buchstaben zur fixen Idee. So dass es dem Reisenden glatt passieren könnte, versehentlich eine Unze Zunge als Bestellung aufzugeben. Und ohne, dass er es will, beschäftigen ihn die federleichten Zungen von Singvögeln, die in manchen Mittelmeerländern als Delikatessen gelten.
Auf den Spuren Mörickes
Ist es ein Zufall, dass im nächsten Essay, der den Spuren Eduard Mörikes folgt, indem es seinen Lebensorten ausweicht (stets fährt der Erzähler an der Abfahrt Cleversulzbach absichtsvoll vorbei!) das Ausbuchstabieren der Laute im Gesang einer Nachtigall eingehend besprochen wird? Die Verbindungen zwischen den Gedanken sind gleichsam subkutan, wir erleben, wie sich das Denken treiben lässt, und landen oft ganz woanders, als wir losflogen.
Es ist der Eigensinn der Sprache, das Abenteuerliche des Schreibens, dem sich der Autor überlässt, und nicht zuletzt bewegt ihn die Frage, wer das eigentlich ist, der da schreibt. Eine vorläufige Antwort findet er in Ted Hughes‘ Konzeption vom poetischen Selbst, dem wahren Ich des Dichters, das ihn zu okkupieren, zu unterwerfen sucht.
Poetisch berührt durch Ernst Jünger
Hughes‘ berühmtes, unerschöpfliches Traumgedicht „Der Gedankenfuchs“ gehört zu den Texten, die den Autor nachhaltig beeindruckten. In der Prosa ist es insbesondere Ernst Jünger, dem er sich verpflichtet fühlt, bis in die eigene Stilistik hinein. Die Anschaulichkeit der Naturbeschreibungen in Jüngers Tagebüchern ist ihm ein Maßstab dessen, was in Prosa möglich ist. Dies hat nicht zuletzt heimatliche Gründe, die die Gegend um Hannover betreffen, in der Ziebritzki aufgewachsen ist und Jünger zeitweilig lebte.
Ein Eintrag aus dessen Tagebuch „Jahre der Okkupation“, überschrieben „Karlshorst, 18. Juni 45“, also aus den ersten, in den Frühsommer fallenden Nachkriegswochen, wird dem Nachgeborenen zum starken Leseerlebnis: „Als ich die Passage, auf einer Zugfahrt zwischen Fulda und Göttingen, das erste Mal las, empfand ich das seltene, in seiner klaren Körperlichkeit untrügliche Gefühl, poetisch berührt zu werden.“
Solche Erlebnisse sind es, aus denen ein Lyriker schöpft. Sie zeigen ihm, dass er seinen Einbildungen trauen kann, dass es sich lohnt, für sie nach den richtigen Worten zu suchen. Nie weiß man, wie die Lebensaugenblicke hineinspielen – was wäre gewesen, wenn Ziebritzki diese Passage erst zwischen Hildesheim und Braunschweig gelesen hätte? Dass der aus Stahlgewittern geborene Dichter eine durchaus schwierige Portalfigur für das eigene Schreiben sein kann, entgeht Ziebritzki übrigens nicht. In einem Traum ist er ihm erschienen, mit kalter, herrischer Gebärde nach dem Woher und Wohin des Jüngeren fragend: „Und was ist das Ziel?“
Wie man ein brüchiges Inneres mit Worten abdichtet, wie es ist, in einer Ferienwohnung auf Juist mit dem Fernglas nach den Vögeln Ausschau zu halten, und wie eine Druckgrafik mit Weißlingen an einer leeren Zimmerwand zur Einschlafhilfe wird – das sind Dinge, die man aus Ziebritzkis Essays nebenbei erfährt, aber kaum je wieder vergessen wird. Ob das tatsächlich „gar nicht viel“ ist, wie er seinen Band listig überschrieben hat?
Im letzten Text, der kaum noch Essay, sondern schon ganz Erzählung ist, „Brennen“ betitelt, kehrt der Autor in seine Kindheit zurück, in ein ländliches Niedersachsen der sechziger, siebziger Jahre, das so fern wirkt wie die Bergdörfer Adalbert Stifters. Umso besser lässt sich davon erzählen.
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