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Größter Korruptionsskandal unter Selenskyj: Ukrainische Ermittler sehen Vertrauten des Präsidenten als Drahtzieher – Justizminister gefeuert
Timur Minditsch, ein früherer Geschäftspartner von Selenskyj, sieht sich schweren Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. Auch hochrangige Beamte sollen verwickelt sein – Justizminister Haluschtschenko wurde entlassen.
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Es ist ein unter Führung von Präsident Wolodymyr Selenskyj bisher beispielloser Korruptionsskandal in der Ukraine: Einen Tag nach Razzien im Energiesektor haben Antikorruptionsermittler einen Vertrauten des Staatschefs der weitverzweigten Korruption beschuldigt.
Timur Minditsch habe „beschlossen, sich unrechtmäßig zu bereichern, indem er Straftaten in verschiedenen Bereichen der ukrainischen Wirtschaft organisierte“, erklärte ein Vertreter der Antikorruptions-Staatsanwaltschaft (Sapo) am Dienstag vor Gericht. Der Verdächtige habe „freundschaftliche Beziehungen zum Präsidenten der Ukraine“ für seine kriminellen Aktivitäten genutzt.
Wer ist Minditsch?
Minditsch ist ein Vertrauter und Geschäftspartner von Selenskyj aus dessen Zeiten in der Unterhaltungsbranche. Er ist Miteigentümer der Produktionsfirma Kwartal 95. Die Firma war von Selenskyj gegründet worden, der früher als Komiker und Schauspieler auftrat, bevor er für das Präsidentschaftsamt kandidierte. Dem Staatsanwalt zufolge übte Minditsch „Kontrolle über die Anhäufung, Verteilung und Legalisierung von Geldern aus, die durch kriminelle Handlungen im Energiesektor der Ukraine erlangt wurden“.
Kwartal 95 distanzierte sich in einer Stellungnahme von Minditsch. Er sei zwar juristisch mit dem Produktionsstudio verbunden, jedoch nicht an inhaltlichen oder personellen Entscheidungen beteiligt.
Justizminister entlassen
Auch der ukrainische Justizminister Herman Haluschtschenko, der früher Energieminister war, ist der Sapo zufolge in den Skandal verstrickt. Ihm wirft die Behörde vor, „persönliche Vorteile“ von Minditsch erhalten zu haben – im Gegenzug für die Kontrolle über die Geldflüsse im Energiesektor. Haluschtschenko wurde von seinen Aufgaben entbunden, teilte Regierungschefin Julia Swyrydenko bei Telegram mit. Er bezeichnete seine Suspendierung angesichts der Ermittlungen als richtigen Weg und kündigte an, sich juristisch zu verteidigen.
Minditsch habe nicht nur Einfluss auf Haluschtschenko ausgeübt, sondern auch auf Ex-Verteidigungsminister Rustem Umjerow, wie Staatsanwalt Serhij Sawyzkyj Medienberichten zufolge sagte. Umjerow räumte in einer Stellungnahme zwar Kontakte zu Minditsch ein, wies aber Korruptionsvorwürfe strikt zurück.
Vorwurf: 100 Millionen Dollar Geldwäsche von Schmiergeld
Am Montag hatte das Nationale Antikorruptionsbüro (Nabu) Razzien im Energiesektor ausgeführt und dabei nach eigenen Angaben ein „großangelegtes Korruptionssystem“ aufgedeckt. Dem waren 15-monatige Ermittlungen vorausgegangen. Demnach sollen „etwa 100 Millionen Dollar“ (86 Millionen Euro) Schmiergeld gewaschen worden sein. Am Dienstag sprach das Antikorruptionsbüro von fünf Festnahmen und sieben Verdachtsfällen.
Es geht um Bestechungsgeld, das beim Bau von Schutzvorrichtungen um Energieanlagen gegen russische Luftangriffe geflossen sein soll. Die betroffenen Unternehmen sollen das Schmiergeld gezahlt haben, um weiterhin Aufträge zu bekommen, schrieb „Kyiv Independent“.
Ukrainische Medien hatten am Montag berichtet, dass das Nabu im Zuge von Razzien unter anderem die Häuser von Haluschtschenko und Minditsch durchsucht habe. Die Behörde sprach von einer „hochrangigen kriminellen Organisation“. Diese habe ein „großangelegtes Korruptionssystem aufgebaut“, „um strategische Unternehmen im staatlichen Sektor zu beeinflussen“ – darunter den ukrainischen Energielieferanten Energoatom. Laut ukrainischen Medien könnte Minditsch auch in dem für die Ukraine wichtigen Bereich der Rüstungsindustrie illegale Geschäfte gemacht und sich bereichert haben.
Minditsch hat sich offenbar abgesetzt
Minditsch soll sich ukrainischen Medienberichten zufolge nach einem Tipp zu einer bevorstehenden Hausdurchsuchung ins Ausland abgesetzt haben. Er befinde sich in Israel.
Ausgerechnet der Energiesektor
Die Vorwürfe der Veruntreuung von Geldern im Energiesektor hat in der ukrainischen Bevölkerung Empörung ausgelöst, insbesondere da dieser Sektor von Russland seit fast vier Jahren mit Raketen- und Drohnenangriffen überzogen wird.
Energoatom sprach von einem „Vorfall“, der keinen Einfluss auf die finanzielle Stabilität des Unternehmens, die Stromproduktion und die Sicherheit der ukrainischen Kernkraftwerke habe. Der Staatskonzern gilt als besonders bedeutend, weil in dem Land der Hauptteil der Energieerzeugung von Atomkraftwerken kommt.
Die Energiewirtschaft steht besonders jetzt in der kalten Jahreszeit im Fokus, weil viele Anlagen durch die russischen Drohnen- und Raketenangriffe beschädigt oder zerstört sind. Für die ukrainische Führung kommt der Skandal zur Unzeit, weil viele Menschen in Kälte und Dunkelheit sitzen, während sich Beamte bei illegalen Geschäften bereichert haben sollen.
Selenskyj hat sich bisher nur kurz in seiner abendlichen Videobotschaft zu den Ermittlungen gegen Energoatom geäußert, ohne auf Details oder Namen einzugehen. Schuldige sollten verurteilt werden, sagte er. Zugleich rief er die Regierungsbeamten zur Zusammenarbeit mit den Ermittlern des NABU auf.
Hintergrund: Korruption ist ein verbreitetes Problem in der Ukraine
Die in die EU strebende Ukraine gilt trotz Reformen immer noch als einer der europäischen Staaten mit der höchsten Korruptionsanfälligkeit. Selenskyj war mit dem Ziel angetreten, der weitverbreiteten Korruption und Zweckentfremdung von Geldern in der Ukraine ein Ende zu setzen.
Erst im vergangenen Monat wurde der ehemalige Leiter des staatlichen Stromnetzes der Ukraine, Wolodymyr Kudrytskyj, wegen des Vorwurfs der Veruntreuung verhaftet. Der inzwischen auf Kaution freigelassene Beamte wies die Vorwürfe als politisch motiviert zurück.
Osteuropaexperte: Korruption verhindert ukrainisches Überleben
Der Osteuropaexperte Jerzy Maćków von der Universität Regensburg kommentiert den Skandal in einem Beitrag auf seinem Blog als heftigen Rückschlag für die Ukraine. Die Korruption zerstöre die Einheit des Landes sowie das Vertrauen des Westens und verhindere eine Mitgliedschaft in der EU. Doch „ohne die europäische Zukunft hat die souveräne Ukraine keine Zukunft“, schreibt Maćków. Dennoch seien „all diejenigen im Westen, die die Ukraine am liebsten aufgeben würden, kurzsichtige Ignoranten“ – wie auch „der Großteil der breit begriffenen ukrainischen politischen Elite, die die dramatische Lage des ukrainischen Volkes nicht begreift“. (AFP/dpa/Tsp)
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