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150 Kerzen für Theodor Lessing: Erinnerung an einen jüdischen Intellektuellen
Vor 150 Jahren wurde der vom deutschen Kultur-Erinnerungsapparat vernachlässigte jüdischer Publizist und Philosoph Theodor Lessing geboren. Eine Würdigung.
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Gotthold Ephraim? Nein, bei dem tut sich das deutsche Feuilleton leicht. Sein weise orientalisch geknüpfter Teppich für seinen um Menschlichkeit werbenden Nathan ist so breit angelegt, dass sich ab 1945 besonders gern antisemitisch aktive Schauspieler wie Werner Krauss um den Stoff bemühten. Als „Wiedergutmachungsrolle“. Nun geht es aber um die bereits aufgestellten 150 Kerzen für Theodor Lessing – den Widerborstigen! Vom deutschen Kultur-Erinnerungsapparat vernachlässigter jüdischer Publizist und Philosoph: 8.2.1872 in Hannover geboren; am 31.8.1933 in Marienbad in der Tschechoslowakei erschossen – das erste Attentatsopfer der Nazis im Ausland.
Professionellen Nachrufschreibern geht ab 100 Kerzen aufwärts manchmal die Puste aus. Aktuell geht es hier sogar um 150 auszublasende. Wie verrichtet also ein redlicher Nachrufschreiber seinen "Blow-Job", wenn sich die jüdische Geisteswelt wie im Falle Lessings von ihm beschmutzt fühlte? Warum? Das ist ein weites und vermintes Feld. Anstatt sein Identitätsproblem mit Selbstreflexion anzugehen, arbeitete Lessing beispielsweise seine Problematik an einem anderen Kollegen ab: Maximilian Harden! Während Kurt Tucholsky, auch nicht gerade zimperlich über die deutsch-jüdische Gesellschaft Humor produzierte und seine Pseudonyme rein feuilletonistischer Natur waren, lachte man bei Lessings Buch „Der jüdische Selbsthass“ wenig bis gar nicht. Sollte man auch gar nicht.
Dabei war er durchaus ironisch bis sarkastisch fähig. Hier ein paar Giftpfeile aus seinem Köcher. Hindenburg, vor dem er warnte, ihn bitte nicht zum Reichspräsidenten zu wählen, bezeichnete Lessing als einen „farblosen Charakter“. Über Hitler orakelte er hellsichtig: „Hinter einem Nero steckt leider oft ein Zero!“ Nun ist der Streit über den Umgang mit Straßennamen im Allgemeinen und bei Hindenburg im Speziellen neu entflammt. Hat sich doch Hannover wieder einmal nicht dazu entschließen können, den Steigbügelhalter Hitlers zu verdammen und einen Hindenburgs Namen benutzenden Damm in Theodor Lessing-Allee umzubenennen. Immerhin verdankt Hannover diesem Mann die erste Volkshochschule. Dies zu würdigen, wären er und seine Frau, Ada Lessing, durchaus würdig. Auf einer Tafel.
„Hinter einem Nero steckt leider oft ein Zero!“
Im Ranking der Erinnerung jedoch liegt Theodors Frau Ada deutlich vorne im Stadtbild. Dank Adolf Grimme, dem ersten niedersächsischen Ministerpräsidenten. Sie war als Nachkriegspolitikerin der SPD modellhaft für Sozialpolitik. Große Erregung also nun im Jahr 2022 in Hannover über eine Straße. 1925 war der Höhepunkt Hannoveranischer Erregung Lessings Buch „Haarmann – die Geschichte eines Werwolfs“. Darin beschreibt der Hannoveraner „seine“ Stadt als ein durch rapide Industrialisierung verrohtes Sündenbabel und gibt eine Vorstellung davon, aus welchem asozialen Schoß der Serienmörder Fritz Haarmann kroch. Autorisch macht er das Monster nicht kleiner, beschreibt aber auch das Monströse eines Justizapparats, der keine kritische Hinterfragung duldet. Immerhin war Haarmann seit 1918 Polizeispitzel. Wie kam es dazu, dass die Behörde … Muss ich den Satz vollenden?
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Fazit: 1925 flog Journalist Lessing aus dem Gerichtssaal und 1932 als Philosophieprofessor aus der Uni. Sein Haarmann-Buch war der Stadt eines zu viel. Ein Massenmörder war zu verkraften, aber hässliche Worte gegen Hannover? Gregor Gysi meinte einmal in einer Talkshow: „Ich hab mich übrigens bei Gerhard Schröder restlos unbeliebt gemacht, weil ich zu ihm gesagt habe: Eine Weltausstellung kann man sicherlich in Berlin machen, auch in München, auch in Hamburg, vielleicht noch in Köln„ aber ganz bestimmt nicht in Hannover!“
Was die Stadt und ihre Erinnerungskultur angeht, haben die Stadtmütter und -väter bei ihrem alten Ministerpräsidenten Schröder noch Zeit. Aber wie kriegt man alle seine Gattinnen auf die Gedenktafel? „Wieder und nicht einmal“ könnten seine Memoiren jetzt schon heißen. Ich empfehle Ihnen Theodor Lessings Erinnerungen „Einmal und nicht wieder.“ Er meinte sowieso, dass man ihn erst im Jahr 2000 begreifen wird. Wir sind also bereits 22 Jahre zu spät.
Ilja Richter
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