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Die Gefräßigkeit des Alters hat hier keine Chance. Die Bibliothek des Trinity College in Dublin.Foto: laif

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Essay: Alle Zeit in einem Raum

Das Gedächtnis der Menschheit: Über die Schönheit und Notwendigkeit von Bibliotheken

Manchmal sind es die unbekannten, die ganz und gar klanglosen Namen, die am Anfang stehen müssen. Beginnen wir also mit einer Figur, die niemand kennen wird – es sei denn, er hätte wie ich in den neunziger Jahren am altehrwürdigen Trinity College in Dublin studiert; mit einem jener Menschen, deren Bekanntschaft man gleichsam im Vorübergehen macht, die aus ihrem Dunkel auftauchen und bald wieder darin verschwunden sind und die einen trotz allem noch Jahre später, manchmal ein Leben lang, beschäftigen.

Jedenfalls kann ich nicht der Einzige sein, der sich an Matteo erinnert, jenen kleinwüchsigen und ein bisschen verwahrlost wirkenden älteren Herrn, der Tag für Tag als Erster auf dem Universitätsgelände erschien, stets im selben grünen Mantel am Ecktisch der Cafeteria kauerte, als wäre um ihn keine Welt – wenn er sich nicht, und das war meistens der Fall, im Neubau der Berkeley Library aufhielt, was man ihm, der zwar kein Student, aber so offensichtlich harmlos, ja bedürftig war, gestattete. Wer ihn ansprach, stellte rasch fest, dass Matteo stumm war und sich nur mit Gesten, mit einigen wenigen Lauten zu äußern vermochte, bevor er erneut zu wühlen und zu suchen begann, tief in sich selbst und in den Büchern.

Bis man herausfand, dass Matteo seit Jahren vor allem mit einem beschäftigt war, nämlich Seite um Seite aus Erstausgaben und Enzyklopädien, aus wissenschaftlichen Studien und erzählender Prosa, aus Bildbänden und Lexika nicht nur herauszureißen, sondern diese Seiten, ob es sich nun um kostbare Drucke oder um profane Zeitschriften handelte, überdies zu essen, sie unterschiedslos und von einem rätselhaften Hunger getrieben, zu verspeisen. Diese magere, gebeugte Gestalt, erkannte man mit Schrecken, verbarg hinter ihrem mitleiderregenden Äußeren, hinter der humpendicken Brille und den verhuschten Gesichtszügen die geballte Effizienz und Gier eines ganzen Heuschreckenschwarms und hätte zweifellos, wäre dem nicht rechtzeitig Einhalt geboten worden, innerhalb kürzester Zeit sämtliche Bibliotheken des Trinity College entkernt, hätte in seiner Gefräßigkeit nichts übrig gelassen als leere Ledereinbände und stumme Hüllen aus Leinen – und vielleicht, wer weiß, nicht einmal den berühmten Long Room mit seinen Handschriften verschont, auch nicht das herrliche „Book of Kells“ mit seinen prunkvoll illuminierten Kalbslederseiten, um am Schluss eines der wenigen erhaltenen Exemplare der Osterproklamation von 1916 zu vertilgen, zum Entsetzen der ganzen irischen Republik.

Es waren immer zwei Aufgaben, die eine Bibliothek zu erfüllen hatte. Der Nutzbarmachung ihrer Sammlung für eine Öffentlichkeit stand der Schutz dieser Sammlung vor allen Bedrohungen gegenüber, sei es durch Witterung, Naturgewalten oder jene Öffentlichkeit – und doch verschwand so vieles, selbst dort, wo ein schützendes Dach errichtet wurde. Man denke an die Bibliothek Assurbanipals in seiner königlichen Residenz zu Ninive im 7. vorchristlichen Jahrhundert: 10 000 Tontafeln fand man, doch wie viele ungebrannte Tafeln zerfielen sogleich in den Händen der Archäologen. Man denke an das Museion Alexandrias und dessen Bibliothek, die berühmteste von allen, deren mythischer Untergang ins kulturelle Gedächtnis eingegangen ist – auch wenn es wahr sein mag, dass nur einige Hafengelände in Brand gesteckt wurden, die eigentliche Bibliothek aber erst Jahrhunderte später zerstört wurde.

Was muss verloren gegangen sein, als während des Dreißigjährigen Krieges die Palatina von Heidelberg in den Vatikan geschafft wurde, 50 Wagen mit fast 200 Kisten, abertausend Handschriften und Drucke? Eben dort, in der vatikanischen Bibliothek, wird einem wunderbar vor Augen geführt, dass selbst die dicksten Mauern ein Überleben nicht garantieren, lagern doch hier Folianten, die mit der Zeit so porös geworden sind, so morsch, dass jeder Versuch, sie zu öffnen, sie sofort zerfallen lassen würde: Bücher, die es gibt und nicht gibt zugleich, deren Geheimnis mit Händen zu greifen und doch für alle Zeiten verloren ist.

Angesichts dessen ist es fast seltsam, wie geschützt man sich als Leser in einer Bibliothek wähnt. Das Versprechen der Dauer mag trügerisch sein, und doch fühlt man sich behütet in diesem Raum, der alle Zeiten in sich aufgenommen hat. „In einer Bibliothek“, schreibt Ralph Waldo Emerson in „Society and Solitude“, „sind wir von hunderten lieber Freunde umringt, wenngleich ein Zauberer sie in jenen Behältern aus Papier und Leder gefangen hat; und obwohl sie uns kennen und seit zwei, zehn oder 20 Jahrhunderten auf uns warten, und obwohl sie uns ein Zeichen geben und sich offenbaren möchten, ist es das Gesetz ihres Limbus, dass sie nicht sprechen dürfen, bevor man selbst sie anspricht.“

Erklärt die Anwesenheit so vieler Vertrauter, warum es in Lesesälen so verlockend ist, für ein paar Minuten den Kopf auf sein Buch zu betten und einzuschlummern? Und zuweilen scheinen es doch die Bücher selbst zu sein, die trotz ihrer delikaten Materialität darauf beharren, dass sie, in Ovids Worten, ein Werk sind, „das nicht Juppiters Zorn, das nicht Schwert noch/ Feuer wird können zerstören und nicht das gefräßige Alter“.

Ich denke an einen Aufenthalt an der Brown University in Providence, Rhode Island, wo ich das Büro eines alten Dichters besuchen durfte, das im Laufe von Jahrzehnten zu einer lyrischen Privatbibliothek geworden war und dessen Bestände kaum Platz zum Atmen ließen. Kurz zuvor hatte man die Universität restaurieren und dafür alle Büros räumen lassen wollen, merkte aber, als man jene gewichtige Poesiebibliothek entfernte, dass sich die Statik des Hauptgebäudes bedenklich veränderte. Kurz: Die Bücher blieben, wo sie waren, um einen Einsturz der gesamten Brown University zu verhindern. Wo die Architektur sich der Literatur so fügen muss, darf man von einem Sieg des Papiers über den Stein sprechen.

Ich stelle mir Bibliothekare als Menschen vor, die von dieser Wirkmacht der Bücher zutiefst überzeugt sind. Es kann ja kein Zufall sein, dass so viele dieser Schrifthüter selbst Autoren waren und sind. Kant war in der Königlichen Schlossbibliothek zu Königsberg beschäftigt, Goethe betreute bis zu seinem Lebensende die Herzogliche Bibliothek in Weimar, wo er nicht nur den Buchbestand verdoppelte, sondern auch Schillers Schädel im Piedestal von dessen Marmorbüste unterzubringen wusste. Leibniz, in Hannover tätig, bezeichnete die Bibliothek als „Gedächtnis der Menschheit“, Gotthold Ephraim Lessing nahm, als Leibniz’ Nachfolger, den Posten als Bibliothekar der Wolfenbüttler Bibliothek an – aus Geldnot, aber selbstgewiss: „Ich darf mich rühmen“, schreibt er in einem Brief, „dass der Erbprinz mehr darauf gesehen, dass ich die Bibliothek, als dass die Bibliothek mich nutzen soll.“

Philip Larkin schließlich war als Kind verzaubert von seiner Stadtbibliothek und erinnerte sich ein Leben lang an die stickigen Lesenachmittage während der Sommerferien. Trotzdem deutete zunächst wenig auf die Leidenschaft hin, mit der er sich später seinem Beruf widmete, denn, wie er meinte, „(a) I am too brilliant“ und „(b) I know sweet fuck all about librarianship“. Doch wo immer Larkin hinkam, wurde die Bibliothek zum glanzvollen Mittelpunkt.

Als Philip Larkin in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts seine zweite Stelle antrat, diesmal im nordirischen Belfast, schien ihm die dortige Queen’s Library einer riesigen Kirche zu ähneln. „Niemand hatte in jenen Tagen eine Vorstellung davon, wie eine Bibliothek auszusehen habe“, erinnert er sich: „Das Licht war schummrig und religiös.“ Diese knappe Notiz erinnert daran, dass Bibliotheken immer auch Stätten der Andacht, ja der Verehrung waren. Unwillkürlich beginnt zu flüstern, wer einen Lesesaal und seine feierliche Stille betritt, und er würde, gestattete er sich ein lautes Gespräch oder gar ein schallendes Lachen, durch ein empörtes Zischen nicht überrascht, würde sich vielmehr der eigenen Verfehlung peinlichst bewusst.

Wie sollte man nicht beim Kratzen der Bleistifte und der Federn auf Papier, selbst beim Klacken der Tastaturen, an die Skriptorien des Mittelalters denken, wo vor der Erfindung des Buchdrucks die kostbaren Schriften mühevoll kopiert wurden? „Ich kenne Bezirke“, schreibt Jorge Luis Borges in seiner berühmtesten Erzählung „Die Bibliothek von Babel“, „in denen die Jungen sich vor den Büchern niederwerfen und in barbarischer Weise die Seiten küssen“. Es mag zu weit gehen, in Matteo ähnliche Inbrunst walten zu sehen, die sich nicht mit dem Kuss begnügte. Aber ich muss daran denken, dass sein Name identisch ist mit dem des Evangelisten, Matthäus, dessen eines Attribut das Buch ist. Die Ehrfurcht vergangener Zeiten ist auch dem heutigen Besucher nicht fremd, und noch in der ungemütlichsten Ausleihe, angesichts des nüchternsten Verwaltungsaktes, vollzogen von einem Angestellten, der nichts als die Mittagspause herbeisehnt, bleibt man gewahr, dass in jedem Stempel, streicht man ein S, der Tempel enthalten ist.

Was aber, diese Möglichkeit geht mir erst jetzt und nach so vielen Jahren auf, wenn jener alte Mann gar nicht lesen konnte, wenn Matteo, den man Tag für Tag von Büchern umgeben sah, in Wahrheit Analphabet war? Ein Gedanke, der zu trostlos ist, um damit zu enden. Denn wohl keine Einsamkeit kann größer sein als die eines Mannes, der, umgeben von allen Büchern der Welt, von Emersons verzauberten Freunden, diese nicht zum Sprechen zu bringen versteht. Glauben wir also lieber, dass der stumme Matteo auf radikalste Weise jene Metapher in die Tat umsetzte, die uns allen, die wir Bücher lieben, die wir von und mit Büchern leben, nicht fremd ist: Las er doch die Bücher nicht nur, er verschlang sie.

Der Autor, 1971 in Hamburg geboren, lebt als Lyriker und Übersetzer in Berlin. Zuletzt erschien von ihm bei Hanser Berlin der Band „Die Eulenhasser in den Hallenhäusern“. Der hier abgedruckte Essay ist die stark gekürzte Fassung der Festrede, die Jan Wagner beim Neujahrsempfang der Freunde der Staatsbibliothek zu Berlin hielt. Der vollständige Text erscheint im nächsten Heft der „Akzente“.

Jan Wagner

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