zum Hauptinhalt

Kultur: Armer Vogel Jugend

Thomas Langhoff streichelt am Berliner Ensemble Hernrik Ibsens „Wildente“

Die dunkle Brille, sie ist hier keine Sonnenbrille, die ihren Träger in einen unbeschwerten Urlaub begleitet. Die dunkle Brille, sie hat hier eher eine düstere Bedeutung – als Zeichen dafür, dass ihr Träger seine Augen bei schwindender Sehkraft vor dem Licht des Tages schützen muss. Die dunkle Brille, sie wird hier von zwei Menschen getragen, für die sie zum Omen schicksalhafter Zusammengehörigkeit wird: Beiden, dem älteren Herrn wie dem jungen Mädchen, droht die Erblindung. Ein Fall von erblicher Belastung?

Mit der dunklen Brille als optischem Requisit lässt Thomas Langhoff in seiner Ibsen-Inszenierung beim Berliner Ensemble erkennen, dass es mit dem Verhältnis zwischen dem wohlhabenden Großkaufmann Werle und der mittellosen Familie Ekdal eine eigene Bewandtnis haben muss. Die 14-jährige Hedvig ist offenbar nicht die Tochter des Fotografen Hjalmar Ekdal, der sie zwar warnt, sich die Augen zu verderben, ihr aber knifflige Retuschierarbeit überantwortet; sie ist wohl der Spross einer flüchtigen Verbindung ihrer Mutter Gina Ekdal mit dem Großkaufmann, in dessen Haus sie damals als Bedienstete arbeitete. Gina, von ihrem Mann argwöhnisch gefragt, „ob dein Kind das Recht hat, unter meinem Dach zu leben“, erwidert zwar in trotziger Verzweiflung: „Ich weiß es nicht." Herr Werle jedoch, im Begriff, ein Altersrefugium zu beziehen, bekennt sich zu seiner Verantwortung für die Ekdals mit einer Verfügung, die Hedvig in ihrer dunklen Zukunft vor finanzieller Not bewahren soll. Hjalmar Ekdal, der entthronte Vater, zerreißt das Papier – klebt es aber wieder zusammen. „Alles so kompliziert...“, stöhnt er in seiner Not.

Ein Stoßseufzer, den auch das Stück selbst provozieren kann. „Die Wildente“, realistisches Gesellschaftsdrama mit symbolistischer Überhöhung, spannt sich gleichsam zwischen den Schwingen des waidwund geschossenen Vogels aus, der, vom alten Werle aus dem Himmel geholt, auf dem Dachboden der Ekdals eine Heimstatt gefunden hat. Erzählt wird da eine von schwerer Schuld belastete Familiengeschichte zwischen polaren ethischen Positionen, vertreten einerseits von Gregers Werle, einem Sohn des Patriarchen, andererseits von Doktor Relling, einem Hausgenossen Hjalmar Ekdals. Gregers vertritt die „ideale Forderung“ nach kompromissloser Wahrheitssuche, Relling das Gegenteil: „Nehmen Sie einem Durchschnittsmenschen die Lebenslüge, nehmen Sie ihm auch sein Glück.“ Die Zerreißprobe, aus der das Ehepaar Ekdal am Ende schwer verwundet hervorgeht, fordert als Todesopfer ein junges Leben: Hedvig – mit einer Jagdwaffe von eigener Hand erschossen, aus Liebe zu dem verlorenen Papa.

Langhoff und seine Ausstatter Peter Schubert und Petra Kray versetzen Ibsens Stück aus dem Entstehungsjahr 1884 wie selbstverständlich in unsere Zeit mit Transistorradio oder Kleinbildkamera als entbehrlichen Requisiten. Erst recht fragwürdig der Einfall, Hedvig ihren geliebten Vogel einmal leibhaftig vorzeigen zu lassen, mit starrer Schwinge und ruckendem Schnabel – jedoch prompt ohne seine symbolische Aura. Könnte sich der Regisseur entschließen, sein Gesellschaftsbild hier und da zu retuschieren, wäre statt des soliden ein brillantes Ergebnis zu feiern.

Prägnant der Kontrast zwischen den Kontrahenten der alten Generation: Peter Fitz gibt dem Großkaufmann Werle Autorität und Noblesse, während Walter Schmidinger als Hjalmar Ekdals Vater auf seine Weise ebenso würdevoll eine gescheiterte Existenz vorführt, einen grummelnden Waldschrat. Ein hüpfender Schritt, ein meckerndes Lachen: Ticks, mit denen Ulrich Noethen den Lebensreformer Gregers Werle als Spinner kennzeichnet. Johann Adam Oest, ein Tragikomiker, sielt sich in der Rolle des aalglatten Hjalmar, der sich als Familienvater aufspielt und doch nur ein Faulpelz und Taugenichts ist. Seine tapfere Gina: Ulrike Krumbiegel. Überwältigend schließlich, mit ihrer Verve alle Sympathien des Publikums im Sturm gewinnend, Christina Drechsler, 23-jährig als 14-jährige Hedvig: ein Bündel jugendlich tobender Gefühle.

Wieder am 29. und 30. Mai.

Günther Grack

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false