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Vladimir Jurowski, neuer Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin.

© Roman Gontcharov

Jurowski und das RSB: Aus der Tiefe des Raums

Der Gigantomanie den Riegel vorschieben: Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin spielt Mahlers Zweite unter der Leitung von Vladimir Jurowski.

Vladimir Jurowski hat fordernde Programme für seinen Start als Chefdirigent des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin erdacht. Musikfolgen, die zeigen, dass sich die Lust am Denken und die Lust am Musizieren im Idealfall ergänzen. Dabei geht er als ausgewiesener Musikdramatiker geschickt vor und findet Lösungen für unbefriedigende Bühnensituationen.

Gustav Mahlers Zweite Symphonie ist mit rund 80 Minuten im Grunde genommen abendfüllend, der Komponist verlangt nach dem ersten Satz fünf Minuten Pause – und fährt Chor und Solisten erst gegen Ende auf. Betritt aber ein Kollektiv wie der Rundfunkchor Berlin das Podium erst inmitten der Symphonie, droht die Spannung einzubrechen. Jurowski wendet einen eleganten Kniff an: Er lässt dem Chor den Vortritt und weist den Sängerinnen und Sängern vor Beginn der „Auferstehungssymphonie“ eine herausfordernde Aufgabe zu. Schönbergs Vertonung von Psalm 130 für einen sechsstimmigen A-cappella-Chor öffnet einen geistigen und klanglichen Raum von schimmernder Tiefe. Im „Lied der Aufstiege“ dürsten die Seelen nach dem Kommen des Herrn, nach Erlösung am letzten Tag. In einem seiner letzten Werke bricht Arnold Schönberg mit der selbst auferlegten Formstrenge. Der Rundfunkchor kostet diese Freiheit mit Bedacht, um die Herbe der Worte wissend, ohne voreilige Glückserwartungen.

So viel von Mahlers Musik bekommt man selten zu hören

De profundis, aus der Tiefe, entwickelt Jurowski auch Mahlers Zweite. Unmittelbar nach der letzten Schönberg-Silbe brechen die Bässe los, schüttelt ein Grollen das Riesenorchester. Das Konvulsivische der Partitur hält der RSB-Chef furchtlos in Händen, er behält einen kühlen Kopf, kann genau hinsehen, welche Energien sich gerade austoben wollen. So viel von Mahlers Musik bekommt man nur selten zu hören, einen solchen Reichtum bis in kleinste Verästelungen hinein, die bei diesem Komponisten niemals Nebenstimmen sind, sondern immer den Keim des Ganzen in sich tragen. Welch akribische Probenarbeit steckt in diesem Abend, der keineswegs risikofrei verläuft.

Vladimir Jurowski schiebt der Gigantomanie den Riegel vor, kontert mit einer Tiefe und klanglichen Weite, die viele Aufnahmen blass aussehen lässt. Der ganze Mahler schwingt hier mit, bis hin zum kühnen Tor der Zehnten. Ehe die Trompeten wieder so unsichtbar von überall her durch die Philharmonie tönen und der Vogelruf darüber nicht weiß, ob er dem Paradies oder dem Jüngsten Tag zugehörig ist, wird Zeit vergehen. Zuvor aber setzt der Rundfunkchor mit wunderbar artikulierter Zartheit ein: „Aufersteh’n, ja aufersteh’n wirst du, mein Staub, nach kurzer Ruh!“

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