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Goodbye, Butterfly: Marlis Petersen als Emilia Marty und Ludovit Ludha als Albert Gregor.

© Monika Rittershaus

"Die Sache Makropoulos" an der Staatsoper: Ausbruch aus der Kältekammer

Claus Guth inszeniert, Simon Rattle dirigiert, und Marlis Petersen brilliert: „Die Sache Makropulos“ an der Berliner Staatsoper.

Ohne ein- und auszuatmen, ist kein menschliches Leben möglich. Wie fragil und fremd dieser elementare Vorgang klingen kann, erlebt man in der Staatsoper, bevor noch ein Takt von Leos Janáceks „Die Sache Makropulos“ gespielt wurde. Das akustisch vergrößerte Luftholen aus den Lautsprechern wirkt in seiner Intimität und Zerbrechlichkeit verstörend und monströs zugleich.

Es ist ein starkes Theaterzeichen, das Claus Guth seiner Inszenierung voranstellt und zu dem er zwischen den Akten wieder zurückkehrt. Der gefeierte Regisseur hat in Interviews keinen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihn die schwer durchschaubare Kriminalstory nervt, die im Vordergrund der Opernhandlung abschnurrt.

In dem sich über Generationen hinziehenden Erbschaftsstreit um den Nachlass eines gewissen Baron Pepi Prus soll sich niemand verirren, findet Guth, und legt starke Wegweiser aus, die direkt zum Kern von „Die Sache Makropulos“ führen sollen. (Weitere Vorstellungen am 16., 19., 22., 25. und 27. Februar. Mitschnitt der Premiere am 30.4. auf Deutschlandfunk Kultur.)

Und der ist ungeheuerlich: Die umschwärmte Operndiva Emilia Marty ist bereits 337 Jahre alt, an ihr wurde ein Mittel ausprobiert, von dem sich der alchemistisch versierte Kaiser Rudolf II. Unsterblichkeit erhoffte. Nun lässt die Wirkung nach und Emilia ist auf der Suche nach dem Rezept, das ihr Vater einst schuf: die Sache Makropulos.

Spur des Erbarmens

Um es in die Hände zu bekommen, mischt sie sich in den ewigen Erbstreit ein, weil sich die lebensverlängernde Formel im Nachlass ihres einstigen, längst verstorbenen Liebhabers Pepi Prus befindet. Eisiger Glamour strahlt durch die Räume der Kanzlei von Dr. Kolenaty, in der die Marty bald alle erniedrigt und doch mit Verlangen an sich bindet.

Nichts deutet in Janáceks Konzeption zunächst darauf hin, dass es sich bei dieser gefühlskalten Schönheit um ein Opfer handelt, das als Minderjährige vom eigenen Vater für dessen Versuche missbraucht wurde und seither damit leben muss, alle zu überleben.

Guth und sein Team bringen die Zuschauer:innen mit Vorsatz darum, aus der Anwaltsklamotte erst am Ende ins existenzielle Lebensdrama zu stürzen. Der schleppende Atem und die nebelerfüllte Kältekammer, in der Marlis Petersen sich als Emilia Marty unter größter Mühe für ihre Auftritte umkleidet, legen sogleich eine Spur des Erbarmens.

Dafür hätte es Auftritte der jungen Emilia, die ein Fläschchen austrinken muss, eigentlich ebenso wenig gebraucht wie ihr gealtertes Alter ego, das sie nie im Spiegel erblickt, wohl aber fürchtet. Doch die gutgemeinte Stoßrichtung rechtfertigt selbst diese Mittel: Es existiert alles gleichzeitig – und ist vor dem Hintergrund eines schier unbegrenzten Lebens auch umfassend gleichgültig.

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Wie absurd der innerlich alten, äußerlich strahlenden Marty das Leben erscheinen muss, illustriert eine Gruppe von Tänzer:innen, die mit Aktenwagen verunfallen oder kreuz und quer im Fahrstuhl stecken.

Auf der von Bühnenbildner Étienne Pluss ganz im Stil der 1920er Jahre gestalteten verschiebbaren Szenerie geht im Schatten der dominierenden Wegweiser eine Menge vor sich. Das Bühnentreiben jenseits der zentralen Kältekammer ist reich mit Wiederholungsticks und Slapsticks gespickt.

Wieder sind es, wie bei Guth so gerne, Korridore, in denen sich das alltägliche Leben staut. Ob in der Kanzlei, im Theater oder im Hotel: Das in transitorischen Orten gefangene Personal gerät ins Schnapstrinken nach Takten, in den Abbau einer „Madame Butterfly“-Aufführung und den Frust nach einer Liebesnacht ohne Liebe.

Das sind traumwandlerisch souverän eingefangene Szenen, in denen man den schweren Atem einmal vergisst, weil alles vom Spiel erfüllt ist und zugleich mit leichtfüßiger Phantasie davon erzählt, dass Hoffen und Sehnen an die begrenzte Spanne eines Lebens geknüpft bleiben.

Brillanz funkelt bei Rattle auf

Im Zentrum steht eine singende Darstellerin von größter Überzeugungskraft: Marlis Petersen schenkt ihrer Emilia Marty ein derart weites Ausdrucksspektrum, dass allein ihr Auftritt Guths Regieansatz rechtfertigt, ja feiert. Petersen hat „Lulu“ gesungen und weiß, welche männlichen Projektionen und Gewaltausbrüche sie auf sich zu ziehen vermag.

Das verleiht ihrer eiskalten Operndiva eine überaus verletzliche, berührende Seite. Sie wirft sich in Janácek Musik, als sei sie das gesuchte Elixier, ringt jeder noch so kurzen Phrase glimmendes Leben ab.

Marlis Petersen war bereits mehrfach Sängerin des Jahres, jetzt singt sie sich erneut auf die Bestenliste. Das Ensemble, das sie umgibt, ist von wunderbarer Geschlossenheit: Bo Skovhus aalt sich förmlich in den Part des halbseidenen Prus- Nachfahren Jaroslas hinein, Jan Martinik bringt als Anwalt Dr. Kolenaty springflutartige Aktenbelehrungen völlig selbstverständlich über die Lippen.

Aber auch Peter Hoare als Anwaltsgehilfe und Natalia Skrycka als Nachwuchssängerin machen ihre Sache beherzt und sinnstiftend wie alle, die an diesem Abend auf der Bühne stehen.

Im Orchestergraben wirkt abermals Simon Rattle, der seinen Janácek-Zyklus an der Staatsoper mit Verve fortsetzt. Schon im stürmisch genommenen Vorspiel funkelt Brillanz auf, rhythmische Raffinesse und ein Gefühl für Tiefenströmungen.

Dieser Opernabend überragt die Berliner Premierenausbeute

Obwohl sie wegen Corona erst spät bei den Proben zusammenfanden, sucht Rattle ganz ähnlich wie sein Regisseur einen direkten Zugang zum Herzen der Dinge. Dabei betont er weniger die durchaus vorhandene Schroffheit der Partitur, macht sie bewusst etwas leichter verdaulich, ohne ihr dabei ihre Eigenheiten zu nehmen.

Mit den Musiker:innen der Staatskapelle versteht er sich ebenso mühelos wie blendend. Schade, dass Rattle das Dirigat des nächsten Sinfoniekonzerts mit seinem Herzenswerk, Robert Schumanns Oratorium „Das Paradies und die Peri“, absagen musste.

Doch die fünf folgenden Aufführungen von „Die Sache Makropulos“ will er unbedingt bestreiten. Karten sind noch zu bekommen für einen Opernabend, der die bisherige Berliner Premierenausbeute überragt.

Man kann keine 300 Jahre lang lieben oder hoffen, heißt es im Libretto. Zwei Stunden in der Staatsoper aber sind in „Die Sache Makropulos“ ohne weiteres möglich.

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