
Berühmte Designer wagen zweiten Blick: Ausstellung zeigt Surrealismus aus einer neuen Perspektive
Poetisch, verschroben und provokant: Im Vitra Design Museum in Weil am Rhein blicken Designer auf den Surrealismus.
Die Ausstellungseröffnung liegt nun schon über eine Woche zurück – der Shitstorm lässt noch auf sich warten. Risikofaktor: Allen Jones’ „Chair“ von 1969. Die lebensgroße Puppe einer in – wenig – Lack und Leder gewandeten jungen Frau, auf dem Rücken liegend, die Knie bis zum Kinn hochgezogen – so dass auf Oberschenkeln und Gesäß ein gepolstertes Sitzkissen Platz findet, auf dem Mann sich bequem niederlassen kann.
Man denke nur an das Gedöns, das um ein anderes Sitzmöbel mit weiblichen Rundungen, ebenfalls dem Grenzbereich zwischen Kunst und Design zuzuordnen und auch aus jenem offenbar notorischen Jahr 1969, in diesem Jahr 2019 bereits gemacht wurde. Als der italienische Designer Gaetano Pesce eine übergroße, zudem mit Pfeilen gespickte Variante seines Sesselklassikers „Up“ vor den Mailänder Dom stellte, rief das sogleich eine Frauenrechtsgruppe auf den Plan.
Auf den Gedanken, dass Pesce möglicherweise ins gleiche – feministische – Horn stieß wie sie, nur eben mit dem altgedienten Mittel der Ironie, wollten die Aktivistinnen partout nicht kommen.
Ein im Maßstab 1:5 verkleinertes Modell von „Up“ steht nun wiederum nur wenige Schritte entfernt von Jones’ Chair im Vitra Design Museum in Weil am Rhein. Und nicht einmal der Kurator – und Museumsdirektor – Mateo Kries ist willens, sich auf die möglichen Ambivalenzen dieser Objekte einzulassen, wenn er sie in seinem Katalogtext als „etwas altbacken“ abtut: „spiegeln sie doch die Klischees über Frauen in einer männerdominierten Ära“.
Der Katalog geht übrigens, wie immer bei Vitra, in seiner Materialfülle weit über die Ausstellung im überschaubaren Frank-Gehry-Bau hinaus.
Dialog zwischen Kunst und Design
Die Ausstellung: „Objekte der Begierde“ – in eigener Sache geht die Doppeldeutigkeit für Kries offenbar in Ordnung. Für seine Schau nimmt er nicht weniger in Anspruch, als den „Dialog zwischen Surrealismus und Design zum ersten Mal nicht nur aus der Perspektive der Kunst“ zu untersuchen.
Dialoge gibt es bekanntlich auf sehr unterschiedlichem Niveau – mitunter plappert einer dem anderen nur alles nach. So erweist sich Aldo Turas Barwagen in Pfeifenform („La Pipa“, ca. 1960) als eine etwas platte Aneignung von René Magrittes bevorzugtem Motiv.
[Objekte der Begierde. Surrealismus und Design 1924 – heute. Vitra Design Museum, Weil am Rhein. Bis 19.1.]
Gae Aulentis „Tour“ (1993) hingegen, eine Glasplatte auf vier Fahrradgabeln, gilt als sakrosankter Klassiker – sie referiert selbstredend auf Marcel Duchamps „Roue de bicyclette“. Die umgedrehte Fahrradgabel auf einem Holzhocker ist eines der ikonischsten surrealistischen Kunstwerke überhaupt. Dass es sich hier nur um einen Nachbau von 2016 handelt, muss man verschmerzen – selbst das MoMa in New York verfügt nur über eine Version von 1951 und nicht das verlorengegangene Original aus dem Jahr 1913.
Und dass Giorgio de Chiricos „Piazza d’Italia Metafisica“ (1921) nicht original ist, geht schon aus der wandfüllenden Größe hervor. Die Grenzen zwischen Ausstellungsobjekt und Ausstellungsdesign sind hier ebenso aufgehoben wie der eigentlich gesetzte zeitliche Rahmen: „Surrealismus und Design 1924 – heute“ heißt die Schau im Nebentitel.
Salvador Dalí ist omnipräsent
1924 ist das Erscheinungsjahr von André Bretons erstem „Manifeste du surréalisme“. Auch vom Surrealismus hat Kries einen eher weiten Begriff – den er gelegentlich überstrapaziert, wenn er dafür schon eine biomorphe Formensprache genügen lässt. Alvar Aaltos „Materialstudie mit laminiertem Holz“ (1934) ist: genau das.
Und Ronan Bouroullecs poetisch-verschrobene Filzstiftzeichnungen (2018/19) ließen sich ebenso gut, wenn nicht besser als abstrakt-expressionistisch rezipieren. Die „Cloud“-Regale der Bouroullec-Brüder – stapelbare Kunststoffwolken mit runden Fächern – hätten wiederum perfekt in die Ausstellung gepasst. Hätten. Ebenso fehlt Borek Sipeks sagenhaft surreal anmutender Stuhl „Ota Otanek“ – vielleicht weil Vitra die Produktion schon vor Jahrzehnten eingestellt hat?
Aber das aufzuzählen, was man vermisst, ist gewiss geschmäcklerisch im Angesicht einer opulenten Schau, in der man sich kaum sattsehen kann an Werken – und Fotografien von Werken – von: Björk, BLESS, Achille Castiglioni, Le Corbusier, Max Ernst, Ray Eames, Konstantin Grcic, Friedrich Kiesler, Shiro Kuramata, Rei Kawakubo, Alicja Kwade, Ingo Maurer, Isamu Noguchi, Meret Oppenheim, Man Ray, Nanda Vigo … Dem Tausendsassa Carlo Mollino ist ein ganzer (kleiner) Raum gewidmet.
Salvador Dalí ist omnipräsent. Die Idee eines Sofas in Lippenform geht auf sein Gemälde „Mae West’s Face which May be Used as a Surrealist Apartment“ (1934/35) zurück. Die Technologie für dessen makellose Produktion in Polyurethanschaum gab es erst dreieinhalb Jahrzehnte später, zur Hochzeit des italienischen Radical Design.
Warum das eindeutig erotisch konnotierte Lippensofa „Bocca“ (1970) von Studio65 für das Corporate Design der Schau taugt – es findet sich sowohl auf dem Vorderdeckel des Katalogs als auch auf dem Ausstellungsplakat –, während die zeitgleich entstandenen Werke von Pesce und Jones „etwas altbacken“ sein sollen: das indes weiß allein Mateo Kries.
Jens Müller