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Britisches Charisma. Peter Gabriel in der Waldbühne.

© dpa/Hannes P Albert

Avatare und Farbexplosionen: Peter Gabriel in der Berliner Waldbühne

Mit „i/o“ präsentiert der Sänger sein erstes wirklich neues Album seit 20 Jahren live

Von Daniel Bax

Fast unbemerkt tritt Peter Gabriel auf die Bühne. Die Bühnenarbeiter huschen in orangenen Overalls, die an die Guantánamo-Kluft erinnern, durch die Szenerie und bereiten die Show vor. Einer von ihnen spricht ins Mikro, mit einem weißen Blatt in der Hand. Erst da wird er an seinem runden Glatzkopf und seinem Spitzbart erkennbar.

Es werde immer schwieriger, das Echte vom Unechten zu unterscheiden, witzelt er auf Deutsch, weshalb er seinen Avatar nach Berlin geschickt habe. Dieser sei zwar etwas älter und fülliger als die Versionen, die ABBA von sich anfertigen ließen. Sein wahres Ich liege aber gerade an einem Strand und sehe aus „wie ein griechischer Gott“. Sagt’s, schält sich aus seinem Overall, und stimmt mit dem Bassisten Tony Levin „Hier kommt die Flut“ an, ein Stück aus den frühen Jahren, als Gabriel ganze Alben auf Deutsch aufnahm. Es ist ein intimer Auftakt zu seinem Auftritt in Berlin, dem ersten von fünf Konzerten in Deutschland.

Üblicherweise veröffentlichen Popstars seiner Größenordnung ein neues Album, bevor sie mit neuen Songs auf Tour gehen, in der Hoffnung, dass das Publikum sie dann schon mitsingen kann. Peter Gabriel dagegen präsentiert sein zehntes Studioalbum seinem Publikum in der lange im Voraus ausverkauften Berliner Waldbühne erst einmal live.

Knallbunte Mikroorganismen

Es ist das erste Album seit 20 Jahren. Der Titel „i/o“ steht für „Input, Output“ und für die Leitidee, dass alles irgendwie mit allem zusammenhängt. „Stuff coming out, stuff going in, I am a part of everything”, singt Peter Gabriel, während hinter ihm auf den Leinwänden knallbunte Mikroorganismen tanzen wie unter einem riesigen Mikroskop.

Mit seinen neuen Songs beweist er wieder ein Händchen für vielschichtige, aber auf ihre eigene Art doch eingängige Songs, und sein Gespür für suggestive Rhythmen. Seine Texte sind mit Tiefsinn getränkt, aber meist kryptisch. Um sie einzuführen, erläutert er, was er sich dabei gedacht hat. Andere mögen die Risiken der Künstlichen Intelligenz fürchten, sagt er zu „Panopticon“. Doch er sehe die Chancen, und träume von einem Globus, der die Erinnerungen der gesamten Welt speichert. Das impressionistisch-elegische „And Still“ dagegen ist seiner 2016 verstorbenen Mutter gewidmet. 

Seit seinem letzten, 2002 erschienenen Werk „Up“ hat der mittlerweile 73-Jährige mit Compilations, Remix- und Cover-Alben sowie Orchester-Versionen seiner Hits an seiner Selbstmusealisierung gearbeitet. Mit „i/o“ knüpft er wieder an beste Zeiten an. Wann das Album genau erscheint, ist noch unklar. Einige der Songs ließ Gabriel aber schon im Netz durchsickern – bedeutungsschwer jeweils zu Vollmond – , darunter das hymnische „Panopticom“ und das pulsierende „Four Kind of Horses“.

Eingestreute Hits

Andächtig und konzentriert lauscht das mit Gabriel gealterte Publikum den noch unvertrauten Stücken. Der meiste Jubel brandet auf, wenn es die eingestreuten Hits wiedererkennt aus den Alben „So“, Up“ und „Us“ erkennt: „Digging in the dirt“, „Sledgehammer“ oder „Red Rain“. Sie fügen sich nahtlos in das neue Repertoire, das den Schwerpunkt des zweistündigen, von einer Pause unterbrochenen Programms ausmacht.

Gabriel hatte schon immer einen Hang zum Gesamtkunstwerk. Für sein Artwork und seine Bühnenshows arbeitet er häufig mit prominenten bildenden Künstlern zusammen, für jeden Song lässt er sich eine eigene Bildsprache entwerfen: für „i/o“ vom isländischen Lichtkünstler Olafur Eliasson, für „Four Kind of Horses“ von der englischen Installationskünstlerin Cornelia Parker, und die Ballade „Playing for Time“ wird mit Assemblagen der Französin Annette Messenger illustriert.

Mal flimmern schwarz-weiße Nahaufnahmen von Kerzen, Gläsern und zerberstende Glühbirnen über die riesigen Leinwände, mal fotografische Verfremdungen: Negative und Röntgenbilder, Vergrößerungen und Farbexplosionen. Bei „Love can heal“ verwandeln sich Wassertropfen auf Glas in einen Sternenhimmel. Zu „This is home“ gibt es Bilder von Kaffee, der in der Tasse schäumt, von Bohnen und Spiegeleiern, die in der Pfanne brutzeln, und Wäsche, die sich in der Trommel dreht, von Bücherwänden und Blicken in den Garten. Und zum indisch angehauchten „Road to joy“ gleiten florale Mandala-Muster über zu ausgestreckten Mittelfingern, dazu pumpen die Bläser. Irgendwie hängt eben alles mit allem zusammen.

Drei alte Herren im Gleichschritt

Den Kern seiner Band bilden die langjährigen Weggefährten David Rhodes an der Gitarre und Tony Levin am Bass: gelegentlich wiegen sich die drei alten Herren im Gleichschritt wie die Blues Brothers im Takt. Hinzu kommen der französische Drummer Manu Katché, der einst am Erfolgsalbum „So“ beteiligt war, sowie Keyboards, Bläser, Flöte und zwei Streicherinnen.

Es ist das größte Orchester, mit dem Gabriel je auf Tour war, hatte er zuvor auf seinem Videokanal berichtet. Zu „Growing Up“ versammelt er seine Musiker anfangs, wie am Lagerfeuer sitzend, im Halbkreis um sich. Später nehmen sie ihre Stellungen im Gerätepark ein. Die jungen Musikerinnen und Musiker unterstützen Gabriel auch stimmlich. Die Cellistin Ayanna Witter-Johnson ersetzt als Duettpartnerin in „Don’t give up“ nicht nur Kate Bush, sondern auch den senegalesischen Sänger Youssou N’Dour bei der zweiten Zugabe „In your Eyes“, beides bejubelte Höhepunkte.

Mit seiner Protesthymne „Biko“ von 1980 entlässt Gabriel seine Fangemeinde in die Berliner Nacht: ein Song, der nichts von seiner Kraft eingebüßt hat, aber an eine Zeit erinnert, als es noch einfacher schien, richtig und falsch zu unterscheiden.  

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