Kultur: Barock- Star
Ein
von Bernhard Schulz
Ein unbekanntes Bild des Barockmalers Caravaggio soll in einer Privatsammlung aufgetaucht sein. Eine ganze Phalanx von Professoren wird aufgeboten, die Sensation zu untermauern.
Nun erweisen sich zwar die meisten derartiger Neuentdeckungen als haltlos. Interessant aber ist der Umstand, dass es sich um einen Caravaggio handeln soll. Denn der Maler Michelangelo Merisi, benannt nach seinem Heimatort, war stets ein von Geschichten, Gerüchten und Geheimnissen umwehter Charakter, ein Schläger und Totschläger, ein Verfolgter und früh Verstorbener, ein peintre maudit – und als solcher, zumal durch einen Spielfilm von Derek Jarman, auch dem breiten Publikum von heute nahe gekommen.
Die Ausstellung seines Spätwerks von 1606-10, die in der Londoner National Gallery kurz vor dem Abschluss steht (bis 22. Mai), glänzt mit enormem Zuspruch. 200000 Schaulustige strömten bislang in den Ausstellungstrakt des Londoner Hauses, und es wären gewiss mehr, würden die Eintrittskarten nicht in streng begrenzter Anzahl ausgegeben, um den Andrang in den sechs recht kleinen Räumen nicht vollends unerträglich zu machen. Man tut gut daran, das späteste Zeitfenster der auf Datum und Uhrzeit bestimmten Billets zu wählen. Erst wenn sich die Säle gegen Tagesende leeren, gelingt es, mehr als nur einen flüchtigen Blick auf die lediglich 16 Gemälde der Ausstellung zu werfen.
Caravaggios Werke holen die Glaubenswirklichkeit der biblischen Themen in die Lebenswirklichkeit seines eigenen Alltags – das macht sie auch für den heutigen Betrachter so schockierend unmittelbar. Aber ist es nur der Alltag von Bettlern und Straßenjungs? Ist es womöglich gerade nicht nur dieser Alltag, sondern der so selbstverständlich, so ganz diesseitig verkündete Glaubensinhalt? Das Zeitalter der Gegenreformation fand in der Kunst des Barock das Medium, den erschütterten Glauben katholischer Prägung machtvoll zu befestigen. Ihr gelang es, mit Bildern zu überwältigen, wo die Reformation durch das Wort tiefe Zweifel gesät hatte. Wie immer Caravaggio als Mensch fehlte – in seiner Kunst führte er den gegenreformatorischen Impuls zu bezwingender Bildsprache. Lechzt gerade London nach solcher Eindeutigkeit? Hatte nicht vor vier Jahren bereits die Royal Academy mit ihrer Barock-Ausstellung „Der Genius Roms“ Triumphe gefeiert? Die National Gallery will von solchen Vermutungen nichts wissen. Ihr Erfolg beruhe allein auf der Qualität der Ausstellungen, äußert ein Sprecher reserviert. Fünf Millionen Besucher vermeldet das Haus für 2004 und nimmt damit die Spitzenstellung unter allen britischen Museen ein. Selbst Caravaggio macht da nur einen Bruchteil aus. Und doch – das Wunder seiner Bilder trifft den Zeitgeist. Auch im nüchtern-unkatholischen London.
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