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Eigene Marke. Ralf Rothmann.

© Heike Steinweg/Suhrkamp Verlag

Ralf Rothmanns „Der Gott jenes Sommers“: Bilder aus der NS-Endzeit

Schmutziger Gegenstand, saubere Sätze: Ralf Rothmann erzählt in seinem Roman „Der Gott jenes Sommers“ von früher Verlorenheit am Ende des Zweiten Weltkriegs.

Warum hat Ralf Rothmann eigentlich noch nicht den Büchnerpreis? Seit dreißig Jahren ist er im literarischen Geschäft eine feste Größe, bei Kritik und Käufern gleichermaßen beliebt und nun gar Spitzentitel im Hause Suhrkamp – kurzum: ein Klassiker. Was also denken sie sich nur bei der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung, dem heute 65-jährigen Schriftsteller den Zugang zum Allerheiligsten der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zu verwehren?

Vielleicht denken sie, das wäre doch ein bisschen zu viel der Vollendung. Vielleicht wollen sie Rothmann nur davor bewahren, in Marmor zu erstarren. Auf diese Idee könnte kommen, wer „Der Gott jenes Sommers“ liest, Ralf Rothmanns neuen Roman.

Erzählt wird von den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs in Schleswig-Holstein. Kiel brennt, auf dem Land sammeln sich die Ausgebombten aus der Stadt und die Heimatvertriebenen aus dem Osten. Nazibonzen feiern ihre letzten dekadenten Feste, und in der Schule schreiben Kinder Aufsätze darüber, „was ich nach dem Sieg tun werde“. Es sind gestochen scharfe Bilder, die dieses Szenario aus der NS-Endzeit aufruft. Aber hat man diesen Film nicht schon häufig gesehen?

Ein typischer Rothmann

Vor zwanzig Jahren wäre der Roman eine Sensation gewesen. All das, was die Debatte um W. G. Sebalds Thesen zu „Luftkrieg und Literatur“ als Defizit verzeichnete, ist hier versammelt: Bomben auf deutsche Städte, Flucht, Vertreibung, Einquartierungen, die Angst vor vergewaltigenden Russen – das für Jahrzehnte überblendete Elend der Deutschen. Mittlerweile aber, nach den Umschichtungen im wiedervereinten nationalen Selbstverständnis, nach Uwe Timm, Günter Grass und Walter Kempowski, nach der Relektüre von Uwe Johnson, ist der Neuigkeitswert des Stoffes dahin. Neues freilich müssen Romane nicht verhandeln. Das Unbehagen hat andere Gründe.

Ralf Rothmann ist im Laufe von neun Romanen, etlichen Erzählungsbänden und Gedichten ein wiedererkennbarer Marken-Autor geworden. Marke heißt: Wo Rothmann draufsteht, ist auch Rothmann drin. Insofern ist „Der Gott jenes Sommers“ ein typischer, wenn nicht ein gesteigerter Rothmann: Er inszeniert eine Geschichte von früher Verlorenheit, von dennoch wie innerlich leuchtenden Gestalten, die sich auf der Nachtseite des Wirklichen herumtreiben. Eine Ralf- Rothmann-Figur par excellence ist die sensible, fürs Metaphysische anfällige und erst zwölfjährige Luisa, aus deren Perspektive der Roman erzählt wird. An ihrer Seite agieren NS-Mitläufer, die sich halbwegs arrangieren oder gar ihren Schnitt machen wollen: ihre abgestumpfte Mutter und ihr Vater, der von den Nazis profitierende Betreiber eines Kieler Militärkasinos, dessen untergründiger Moralismus ihn in den Suizid treibt. Ebenso widerständig wie das väterliche Restaurant-Französisch ist die pure Lebenslust von Luisas älterer Schwester, die sich vergnügen will, und sei es mit Nazis, dabei aber die Machtverhältnisse verkennt. Die stramm auf Endsieg getrimmte Stiefschwester schließlich ist mit einem Hauptsturmführer verheiratet, was diesen nicht davon abhält, Luisa Gewalt anzutun.

Das alles ist fürchterlich – drastisch erzählt und erbarmungslos ausgeleuchtet. Und nein, es ist gewiss kein Abducken ins Historische. Schließlich erzählt Rothmann von Krieg, roher Gewalt, machtgestützter Dummheit und Flüchtlingsdramen – von all dem, was uns in den Ohren dröhnt. Bemerkenswert, und hier liegt das Problem, ist jedoch eine Diskrepanz: die zwischen dem schmutzigen Gegenstand und den blitzsauberen Sätzen. Rothmann schreibt einen schönen Roman. Man folgt ihm gern, diesem perfekt rhythmisierten, süffigen Pageturner, liest sich fest in diesem schlanken, marktgängigen, 250-Seiter. Einen neuen, auf Reinheit fixierten „poetischen Realismus“ hat man das genannt. Ausgewogen sind Sentimentalität und Nüchternheit: „Warum heulst du denn, blöde Kuh? Heul doch nicht schon wieder! Das ist jetzt das Leben.“

Geheimnis des Glaubens

Ausgewogen ist der historische Blick: Ein SS-Mörder wird nach Kriegsende hingerichtet, ein anderer macht unter den Engländern in der Verwaltung weiter. Alles drängt zum ganzen Bild, zu Harmonie und Ewigkeit. Dazu tragen auch die Versatzstücke einer Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg bei, die den Roman durchziehen. Gewalt und Elend – das war und ist und wird sein. Zur Grimmelshausen-Diktion dieser Chronik-Passagen passt, dass ein Band mit Gryphius-Gedichten, der Klage über irdische Vergeblichkeit, im Roman herumliegt. Es scheint, als suchten die Leiden eines ewigen bestialischen Glaubenskrieges in der Literatur Erlösung. Denn das verheißt das Romanfinale: Die einst wilde Leserin Luisa, die mit Alice, Gulliver und Winnetou per du war, möchte Nonne werden. Die Anziehungskraft, die von der Literatur ausgeht, wird abgelöst von derjenigen, die das Geheimnis des Glaubens birgt. Ist das das Credo des christlichen Schriftstellers Ralf Rothmann?

„Der Mensch ist ein Gott in Trümmern“ hatte Rothmann als Motto über „Stier“, den ersten seiner allesamt großartigen Ruhrgebietsromane geschrieben. Damals war er eine aufregende, unverwechselbare Stimme im Konzert der neuen Erzähler. Seiner Idee von Literatur ist er geradezu verblüffend treu geblieben. Und vielleicht ist es folgerichtig, dass Ralf Rothmann nun, ein Vierteljahrhundert später, als Meister im Schönschreiben reibungsfreie Renteneintrittsprosa liefert.

Ralf Rothmann: Der Gott jenes Sommers. Roman. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 254 Seiten, 22 €.

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