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Haltung mit lässigem Ton. Sibylle Lewitscharoff (16. April 1954 - 13. Mai 2023)

© Isolde Ohlbaum/laif/Isolde Ohlbaum/laif

Botschafterin zwischen Oben und Unten: Zum Tod von Sibylle Lewitscharoff

Mit der Büchner-Preisträgerin ist im Alter von 69 Jahren eine der verspieltesten und tiefsinnigsten deutschen Schriftstellerinnen gestorben

Von Gregor Dotzauer

Wann immer sie erfuhr, dass sich der Tod an ihre Fersen geheftet hatte – in ihrem Schreiben war sie darauf vorbereitet. Denn Sibylle Lewitscharoff, die nun im Alter von 69 Jahren gestorben ist, war seit jeher eine fröhliche Spezialistin für die letzten Dinge. Bewandert im kleinen Grenzverkehr zwischen dem Diesseits und dem Jenseits, führte sie Geistergespräche mit fremden und mit eigenen Ahnen. Als studierte Religionswissenschaftlerin verstand sie sich auf eine theologisch durchdrungene Literatur, die alle tyrannischen Glaubenswahrheiten ironisch abzufedern wusste.

Ob sie in „Consummatus“ (2006) auf den Spuren von Orpheus und Eurydike in ein schwäbisches Totenreich aufbrach, durch das auch Andy Warhol und Jim Morrison geisterten, oder ob sie in „Apostoloff“ ein räudiges Bulgarien bereiste, mit dem Sarg eines selbstmörderischen Frauenarztes im Gepäck, in dem sich unschwer Lewitscharoffs eigener, aus Bulgarien stammender Vater erkennen ließ: In einem suadahaften Ton verflüssigte sie den schweren schwarzen Kloß, der sich beim Sprechen über Tod und Trauer bilden kann.

Lewitscharoff, 1954 in Stuttgart-Degerloch geboren, stellte Franz-Kafka-Fragen unter einer Robert-Walser-Sonne. Sie versuchte sich also an Betrachtungen über Sünde, Vaterleid, Hoffnung und den wahren Weg und hob deren metaphysisches Gewicht sofort durch einen unangestrengten Entzückenston auf, dessen Heiterkeit sie mit Unschuldsmiene in etwas reizend Boshaftes verwandelte. „Nicht die Liebe vermag die Toten in Schach zu halten“, resümierte die Ich-Erzählerin, „nur ein gutmütig gepflegter Hass.“

Mit Dante auf dem Aventin

Sie war gern mit den Größten im Dialog. Doch ihre Klugheit und ihr intellektuelles Ethos verpflichteten sie dazu, das Erzählen, das ihr Element war, mit erschöpfenden Vorstudien zu flankieren. Für „Blumenberg“ (2011), ihren Roman über den Philosophen Hans Blumenberg, begab sie sich tief in das Denken des ebenso evasiven wie produktiven Münsteraners hinein und tauchte daraus mit einem genuin literarischen Kommentar über ein Leben im Verborgenen wieder auf. Und für „Das Pfingstwunder“ (2018) wurde sie zu einer Dante-Spezialistin, die sich über die 34 fiktiven Akademiker, die sich auf dem römischen Aventin über die „Göttliche Komödie“ die Köpfe heiß redeten, herrlich mokieren konnte.

Spätestens da war sie mit ihrer MS-Erkrankung selbst irgendwo zwischen Hölle, Fegefeuer und Paradies angelangt. Lewitscharoff, die gerne im Mittelpunkt stand, ja vor ihren Freunden und Freundinnen regelrecht Hof hielt, ließ sich davon nicht ins Bockshorn jagen. Lange tauchte sie bei Veranstaltungen noch mit Rollator auf, bevor ihr Leiden sie ans Haus fesselte, wo sie mit der ihr eigenen Mischung aus Schandmäuligkeit und Formvollendetheit der bitteren Wahrheit trotzte.

Ganz Schwäbin, die ihren Lebensunterhalt jahrelang als Buchhalterin verdient hatte, war sie stolz, dass ihr nicht zuletzt durch den Büchner-Preis im Jahr 2013 gut angelegtes Geld die Dienste einer liebevollen Haushälterin und die häusliche Pflege in ihrer Wilmersdorfer Altbauwohnung ermöglichte. Es war die Umgebung, die vom gemeinsamen Leben mit ihrem 2019 verstorbenen Mann zeugte, dem Maler, Zeichner und Grafiker Friedrich Meckseper. Einige seiner Arbeiten begleiten die beiden Insel-Bändchen, in denen Lewitscharoff den Titelhelden ihres Debütromans „Pong“ (1998) auferstehen ließ.

Kalligrafische Billets und Objekte

Sie war selbst zeichnerisch begabt, mit einer geradezu kalligrafischen Handschrift, in denen sie Billets verfasste, die sie ausgewählten Verehrern ihrer Kunst zukommen ließ. Und sie baute mit Leidenschaft dreidimensionale szenische Objekte zu aktuellen Themen ihres Schreibens, darunter eine Dantesche Inferno-Welt. Das Marbacher Literaturarchiv, das in seiner Magazinreihe drei reizvolle Broschuren mit ihren bildnerischen Arbeiten veröffentlichte, zeige zu wenig Interesse für diese Seite ihrer Werks, klagte sie noch im vergangenen Jahr.

Von der Prägung her war sie eine Pietistin, die es nicht hören wollte, wenn man sie als Begierdekatholikin bezeichnete. Doch in ihrer Glaubensgewissheit, die auf einer buchstäblich himmlischen Offenbarung beruhte, ihrem extravertierten Auftreten und der Farbigkeit ihrer zwischen dem Erhabenen und dem Lästerlichen munter hin- und herspringenden Sprache, war ihr bei allem lutherischen Starkdeutsch das Nüchtern-Protestantische so fern wie jede frömmelnde Innerlichkeit.

Auch ihr Kulturkonservatismus passte eher ins katholische Milieu. Über linken Dogmatismus, dem sie als gymnasiale Kurzzeit-Trotzkistin und dann Sympathisantin des Sozialistischen Büros in Stuttgart verfallen war, konnte sie später nur noch spotten. Dessen bürgerliche Schrumpfstufe, die politische Korrektheit, war ihr nicht weniger ein Dorn im Auge. Wenn sie mit ihrem nun tatsächlich fundamentalistisch-katholischen Freund und Schriftstellerkollegen Martin Mosebach gegen den Hedonismus der modernen Welt vom Leder zog, blieb kein Auge trocken.

Invektive gegen Retortenkinder

Das Temperament konnte dann auch mit ihr durchgehen und verletzende Schärfe entfalten – so bei ihrer Dresdner Rede im März 2014. Sie kritisierte darin mit guten, rational jederzeit nachvollziehbaren Gründen die restlose Verfügbarkeit über Leben und Tod, die mit der Gerätemedizin Einzug gehalten hatte. Mit ihrer Invektive gegen Retortenkinder, die sie „Halbwesen“ nannte, schoss sie aber über das Ziel hinaus. Der Skandal um die Instanz Lewitscharoff war perfekt, und es kostete sie viel Mühe und Reue, wieder in der Menschenfreundlichkeit ihres Werks gesehen zu werden.

Die Souveränität in der Vermittlung von Irdischem und Überirdischem, jenem „Botschaftsverkehr zwischen Oben und Unten“, von dem sie in ihren Poetikvorlesungen „Vom Guten, Wahren und Schönen“ berichtet, war ihr nicht von Anfang an gegeben. Sie brauchte geschlagene 40 Jahre, bis sie 1994, nach zahllosen verworfenen Schreibversuchen, ihr erstes Buch „36 Gerechte“ veröffentlichte. Und auch dann musste das Quecksilbrige, das Überquellende, ja zuweilen Überkandidelte ihrer frühen Prosa gedanklich gezähmt werden.

2012 klagte Sibylle Lewitscharoff in einem Interview über den Tod ihrer Eltern: „Der eine hat sich unwürdig selbst entleibt, und auch die Mutter hat ein unwürdiges Sterbetheater aufgeführt.“ Das Leben, das wir führen, habe „Einfluss auf die Art, wie wir sterben. Ob wir einigermaßen Frieden finden, ob wir uns zufriedengeben können.“ Nun, da die deutschsprachige Literatur mit Sibylle Lewitscharoff eine ihrer verspieltesten und tiefsinnigsten Stimmen verliert, kann man nur hoffen, dass sie ihren Frieden rechtzeitig gemacht hat.

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