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Buch über digitale Fernbeziehungen: Die plüschigen Voyeure
Die argentinische, in Berlin lebende Schriftstellerin Samanta Scheblin hat mit „100 Augen“ einen schrecklich schönen Roman geschrieben.
Stand:
Auf den ersten Blick wirken die smarten Plüschtiere, die Samanta Schweblins Roman „Hundert Augen“ bevölkern, eher anachronistisch als futuristisch: kugelförmige Krähen, Kaninchen, Drachen und Maulwürfe mit einer Kamera hinter den Knopfaugen, drei Rädern als Untersatz und einer rudimentären Audio-Funktion. Wer die sogenannten „Kentukis“ steuert, wissen ihre Besitzer nicht, und genau darin scheint ihr Reiz zu bestehen. Ob wir uns in den 1990er Jahren oder einer nahen Zukunft befinden, ist da schon fast egal: Ganz selbstverständlich postuliert Schweblin in ihrem jüngsten Werk einen Tech-Trend, der sich vom skurrilen Hobby einiger Nerds zum Massenphänomen entwickelt – Tamagotchi meets Alexa, sozusagen.
Nachfolgerin von Borges und Cortázar
In ihrem Heimatland Argentinien wird die 42-jährige Autorin und Filmwissenschaftlerin als würdige Nachfolgerin von Jorge Luis Borges oder Julio Cortázar gehandelt – der Fantastik zuzurechnen ist ihr Schreiben jedoch nur bedingt. Auch wenn ihre Texte immer wieder das Surreale, Monströse streifen, sind sie generell doch geradezu penibel realistisch, bisweilen gar mit absichtsvoll staunender Naivität erzählt.
Der Horror lauert überall
Die fragmentarische Herangehensweise an ihr aktuelles Sujet zeugt von einer kindlichen Neugier, einer Experimentierlust, die „Hundert Augen“ wohltuend von anderen Dystopien abhebt: Anstatt eine vorgefasste Meinung in Literatur zu verpacken, entdeckt Schweblin zusammen mit ihren Protagonistinnen, was die Kentukis können und was nicht, was sie so populär macht, aber auch, in welchen Winkeln ihr inhärenter Horror lauert. Abschalten kann man die plüschigen Voyeure nicht – nur ihre Mechanik zerstören, oder aber sie daran hindern, zu ihrer Ladestation zu gelangen. Beschließt eine der beiden Parteien, den Kontakt abzubrechen, ist kein Reset möglich: das sogenannte „programmierte Ende“.
Selbstmord eines Kaninchens
Mit beeindruckendem Gespür für visuelle Effekte und Situationskomik schildert Schweblin die zentralen Eigenschaften der Kentukis in oftmals absurd-makabren Szenen: Ein Kaninchen ertränkt sich aus Verzweiflung über sein Geschick im Fischteich eines Seniorenwohnheims; eine Plüsch-Krähe, der sehnlichste Wunsch zweier kleiner Mädchen, hackt aggressiv auf ihre neuen Besitzerinnen ein, kaum dass sie ausgepackt ist.
Zerkaut, überrollt und verstümmelt
Wieder andere Kentukis werden von Hunden zerkaut, von Lastern überrollt oder von Sadisten verstümmelt. Doch auch zarte Liebesgeschichten und Familienzusammenführungen, Eifersuchts-, Entführungs- und Läuterungsdramen hat Schweblin in petto.
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Aus einigen Episoden entspinnen sich berührende Fortsetzungsgeschichten, die überwiegend auf Hoffnungsmomente setzen, auf die Sehnsucht nach Anerkennung und Liebe anstatt auf Schock oder Slapstick.
Gute Menschen wollen das Beste
Da wäre etwa Emilia, eine peruanische Witwe, die versucht, durch die Anschaffung eines Kentuki die Entfremdung von ihrem in Hongkong arbeitenden Sohn zu kompensieren. Schon bald bewegt sie sich in Gestalt eines rosa-schwarzen Kaninchens durch die Wohnung einer jungen Frau in Erfurt. Eine merkwürdig asymmetrisch-symbiotische Beziehung entsteht, in der Emilia einerseits Muttergefühle für Eva entwickelt, andererseits in der Rolle des gehätschelten Haustiers eine lang ersehnte Geborgenheit findet. Wer mögen all diejenigen sein, die sich dafür entscheiden, mit Kentukis zu interagieren?
Widerstand gegen Kontrollsucht
„Gute Menschen mit guten Absichten, die nichts anderes wollten, als ein wenig Zeit mit anderen zu verbringen“, so Emilias optimistische Einstellung. Andererseits wissen wir, dass „nur das Beste“ zu wollen auch nach hinten losgehen kann – die andauernde Debatte um Zensur und Hatespeech in den sozialen Medien ist nur ein Beispiel für die Komplexität gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse darüber, was „gut“ und „richtig“ ist. Wenig verwunderlich stoßen Emilias wohlmeinende Absichten, Evas Lebensstil zu kontrollieren und sie auf den rechten Weg zu bringen, zunehmend auf Widerstände.
Pädophiler Maulwurf
Überhaupt führen in „Hundert Augen“ die meisten Bemühungen, die anonymen Verbindungen zwischen Kentuki-Besitzern und Kentuki-Lenkern ins echte Leben zu übertragen, zu Missstimmung oder ins Leere. So ergeht es auch Enzo, einem geschiedenen Vater und Hobbygärtner, der vergeblich versucht, zu seinem Kentuki, den er siezt und „Mister“ nennt, eine Beziehung herzustellen. Als seine Ex-Frau behauptet, hinter dem niedlichen Maulwurf würde sich ein Pädophiler verbergen, der heimlich ihren Sohn ausspioniert, bricht für Enzo eine Welt zusammen.
Expertin für Fernbeziehungen
Ausgehend von diesen Episoden, die den gesamten Globus umspannen und dabei die unterschiedlichsten Menschentypen beleuchten, zeigt Schweblin die Kentukis als treue Begleiter, Existenzbestätigung, Ventil für Wut und Frustration, Spiegelbild ihrer Besitzer. Man merkt, dass Schweblin, die seit 2013 in Berlin lebt und arbeitet, sich auskennt mit digital unterstützten Fernbeziehungen. Vielleicht auch deshalb überwiegt in ihrem Roman das hoffnungsvolle Moment – was jedoch den pointiert gesetzten Horror nur umso deutlicher konturiert.
Global und perfide
Zugleich stößt ihr Versuch, die Gemengelage des Digitalen auf eine plüschige, zwischenmenschliche Ebene runterzubrechen, immer wieder auch an seine Grenzen. „Warum waren diese Geschichten alle so klein, so ungeheuer privat, so armselig und vorhersehbar? So verzweifelt menschlich“, fragt sich etwa eine der Figuren. Und tatsächlich wirkt angesichts der Perfiditäten globalen Ausmaßes, die längst um uns herum geschehen – spektakuläre Cyberangriffe, Cambridge Analytica, Chinas Social Credit Scoring – das in „Hundert Augen“ geschilderte Grauen geradezu trivial.
Die Interessen der anderen
Wem die Kentuki-Server gehören, wer davon profitiert und zu welchem Zweck, lässt der Roman indes offen. Diese Leerstelle mag Programm sein: Auch wenn die Technologie an sich neutral ist, so die Message – es gibt dieses „an sich“ eben nicht. Am anderen Ende sitzt immer jemand mit eigenen, meist undurchschaubaren Absichten und Interessen – sei es ein mächtiger Konzern, ein Orwell’scher Staatsapparat oder: ein Mensch wie du und ich (Samanta Schweblin: Hundert Augen. Roman. Aus dem Spanischen von Marianne Gareis. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 252 Seiten, 22 €).
Anja Kümmel
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