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Heftig bewegt. Nina Tecklenburg (links) und Alexandra Lachmann.

© Benjamin Krieg

She She Pop: Carmen mit Drehstuhl

Ost-Frauen schlagen West-Frauen: She She Pop mit der Performance „Schubladen“ im HAU.

Deutschland 1987. Im Westen sitzt Nina mit ihrer Mutter auf dem Sofa und schaut „Die Schwarzwaldklinik“. Die Fernsehsozialisation –Nina hat zu diesem Zeitpunkt bereits „Diese Drombuschs“ und die dritte Wiederholung des „Traumschiffs“ hinter sich – trägt bis heute bemerkenswerte künstlerische Früchte: Aus dem Stegreif kann Nina Tecklenburg perfekt sämtliche Serien-Erkennungsmelodien herunterträllern.

Auf der anderen Seite der Mauer, im Osten, sitzt Alexandra dagegen 1987 in ihrem Kinderzimmer und schreibt sich eine Art Verhaltenskodex ins Tagebuch: Sie dürfe sich nicht separieren, nicht auffallen, die anderen niemals wissen lassen, was sie denke. Für Alexandra Lachmann ist 1982 das Jahr, in dem sie feststellt, dass sie „eine Schere im Kopf“ hat.

„Schubladen“ heißt der neue Abend von She She Pop im HAU 2 treffend. Denn der Titel ist in doppelter Hinsicht Programm. Die sämtlich in den 1970er Jahren in Westdeutschland geborenen Frauen des Performance-Kollektivs, das letztes Jahr mit der „Lear“-Auseinandersetzung „Testament“ zum Theatertreffen eingeladen war, haben sich drei ostsozialisierte Kolleginnen auf die Bühne eingeladen. Und dort werden nun, angefangen von der Geburt bis in die ersten Nachwendejahre hinein, die biografischen Nähkästchen geöffnet. Dass dabei auch permanent die zweite Bedeutungsebene von „Schublade“ zutage tritt – das Klischee –, ist durchaus intendiert. She She Pops Masterinnenplan besteht sozusagen darin, so unvorbelastet wie möglich auf das Material zu schauen, das einem vor die Füße fällt, wenn man Ost-West-Stereotypen auf individuelle Biografien prallen lässt.

Die Bühnenbildnerin Sandra Fox hat drei Arbeitstische auf die Bühne gestellt, an denen sich jeweils eine Ost- und eine West-Frau auf feschen Bürodrehstühlen gegenübersitzen. Johanna Freiburg, West, hat zum Beispiel ihre Tagebücher aus den achtziger Jahren vor sich aufgestapelt und liest vor, wie sie wahnhaft verliebt einem ahnungslosen Jungen bis in sein Wohnviertel verfolgte. Freiburgs Sparringspartnerin Ost, die Schriftstellerin Annett Gröschner, berichtet im Gegenzug von einem abgeschmetterten Anwerbeversuch durch die Staatssicherheit. Während Johanna und Annett dabei einen lässig-freundlichen Plauderton pflegen, der keiner von beiden zu nahe- kommt, gedeihen am Nebentisch zwischen Wenke Seemann und Ilia Papatheodorou munter die Aggressionen.

Ilia erzählt vom rituellen montäglichen Bankbesuch mit ihrer Mutter, der stets mit einer Abbuchung von 1000 D-Mark endete, während Wenke aus ihrem Heimatkundebuch, Klasse vier, vorträgt, woran man Kapitalisten erkennt: Sie seien schön angezogen, hätten große Häuser und feierten teure Feste. Als Wenke sich schließlich als ehemaliger Brigadeleiter ihrer Schulklasse outet, muss Ilia gleich zweimal laut Stopp schreien: Wie hat man sich, erstens, einen Brigadeleiter vorzustellen; und warum bezeichnet sich ein Mädchen, wenn das schon sein muss, nicht wenigstens als Brigadeleiterin?

Diese dramaturgische Dreifach-Dialog-Konstruktion mag zwar etwas naiv wirken, weil sie notwendigerweise suggerieren muss, Ost und West säßen sich über 20 Jahre nach dem Mauerfall tatsächlich erstmals gegenüber. Andererseits ist dieses Konzept für eine Bühnensituation vielleicht tatsächlich ohne Alternative: Bei welcher Verhandlungsmasse sollte man schließlich in dieses hochgradig besetzte Thema einsteigen, wenn nicht beim Stand null und ausdrücklich beim Individuellen?

Das Dilemma bleibt dennoch: Was beim zweistündigen Ritt durch insgesamt sechs knapp 40-jährige Lebensgeschichten auf die Arbeitstische kommt, ist notwendig anekdotisch und auf Pointe gebürstet. Man kennt diesen grundheiteren Tonfall aus der Post-DDR-Popliteratur der neunziger und nuller Jahre.

Sieht man vom oberflächlichen Informationsgehalt allerdings ab und schaut lieber aufs Performative, auf die Auslassungen, auf die freiwilligen und, noch besser, die unfreiwilligen Peinlichkeiten, so ist zu konstatieren: Ost und West treffen sich, erstens, bis heute erstaunlich selten – und wenn, dann am ehesten in Katarina Witts „Carmen“-Choreografie von 1988, die in west-östlicher Akademikerinneneintracht minutiös auf den Bürostühlen nachgestellt wird. Und zweitens: Die Ostfrauen gehen aus dem „Schubladen“- Spiel eindeutig als Siegerinnen hervor. Sie wirken individueller, markanter, reflektierter, manchmal nahezu heroinenhaft. Dass Ilia Papatheodorou „Emanzipation“ leicht stotternd als Befreiung der Frau definiert, während Wenke Seemann sie cool mit einem umfassend freiheitsgedanklichen Heiner-Müller-Zitat auskontert, bringt die Verhältnisse auf den Punkt.

Man kann daraus zwei Schlüsse ziehen: Entweder haben die She-She-Pop-Frauen den Ostlerinnen tatsächlich wenig entgegenzusetzen. Dann wäre es ein mutiger Akt, die Unbedarftheit in puncto OstWest-Diskurs derart offensiv auszustellen. Oder die Westlerinnen haben sich nicht getraut nachzuhaken.

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