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Am 20. Juni 2015 filmten Deutsche wie diese beiden hier ihren Alltag.

© Warner

Doku "Deutschland. Dein Selbstporträt": Chor der Optimisten

Regisseur Sönke Wortmann ließ sich für seinen Film „Deutschland. Dein Selbstporträt“ private Videoaufnahmen aus dem ganzen Land schicken.

„Ich kann mir keinen schöneren Arbeitsplatz vorstellen“ sagt der Uniformierte, während er den Wagen vor der Justizvollzugsanstalt Kassel 1 parkt und sich mit einer geübten Bewegung in seinen Rollstuhl hievt. Vor dem Modell des Gefängnisses spricht er liebevoll über den Bau, der alte Architektur und neue Sicherheitsstandards miteinander verbindet.

Den schönsten Ausblick überhaupt auf Kassel, findet er, hat man aus einem kleinen Fenster oben: Über den Gefängnishof und die Mauer hinweg geht der Blick auf ein bisschen Stadt und dahinter schemenhaft ein paar Berge.

Der frohgemute Gefängniswärter im Rollstuhl irritiert, weil er allen Vorstellungen von einem Mann in seiner Situation widerspricht. Andererseits beeindruckt sein Selbstbewusstsein: Gerade das Unglück, das ihm widerfahren ist, habe ihm nicht nur die Solidarität der Kollegen, sondern auch den Respekt der Insassen eingebracht. Und mit seiner Erfahrung der Unglücksbewältigung wolle er den Gefangenen helfen, das eigene Schicksal neu in die Hand zu nehmen. Ja, tatsächlich hat der Mann genau den richtigen Job – so zufrieden scheint er mit seinem Leben.

Die Doku orientiert sich am Tagesablauf

Der Justizvollzugsbeamte ist einer von 10 000 Menschen, die dem Aufruf gefolgt sind, am 20. Juni 2015 mit Videos aus ihrem Leben in Deutschland zu erzählen. Was macht dich glücklich? Was macht dir Angst? Was bedeutet Deutschland für dich? Das waren die Leitfragen, an denen sich die Amateurfilmer orientieren konnten, aber nicht mussten. Sönke Wortmann, der mit „Deutschland – ein Sommermärchen“ nach der Fußball-WM 2006 dem Selbstbegriff des Landes auf der Spur war, hat das Material gesichtet und es zu dem Kinofilm „Deutschland. Dein Selbstporträt“ ausgebaut.

Doch Vorsicht, die montierten Filmschnipsel sind nicht gleich als authentische Stimme des Volkes zu verstehen. Schließlich ist das Ergebnis durch den Filter einer doppelten Autorenschaft gegangen. Das Facebook-Zeitalter – die Plattform hat, sicher nicht ganz selbstlos, den technischen Support für das Upload der Videos zur Verfügung gestellt – steht für eine neue Kultur narzisstischer Selbstbespiegelung, und die Lücke zwischen digitaler Selbstdarstellung und der Lebensrealität ist oft beträchtlich. Für den zweiten Filter steht die Montage; Sönke Wortmann und sein Cutter Ueli Christen haben eine durchaus kinotaugliche Kompilation geschaffen, orientiert am Tagesablauf und an der Vielfalt der Lebensformen.

Ein optimistischer Humanismus prägt "Deutschland. Dein Selbstporträt"

Eine Frau, die aus der Dunkelheit ihrer Depression heraus spricht, hat genauso Platz wie jugendliche Musiker, die zu einem Gig in die Provinzfußgängerzone fahren. Die Stimme eines Migranten, der sich seit zehn Jahren in Deutschland nur „geduldet“ fühlt, findet hier Gehör, aber auch private Liebeserklärungen an den Bruder mit Down-Syndrom oder eine Freundin, die an einem Tumor erkrankt ist. Aus der Summe des Individuellen erhebt sich ein Chor, dessen positive Stimmen die kritischen behutsam übertönen. Keine Frage, ein optimistischer Humanismus prägt nicht erst seit dem „Sommermärchen“-Film das Werk Wortmanns.

Andererseits wurde dieses Selbstporträt noch in der Schnittphase von der Zeitgeschichte spürbar überholt. Das politische Klima ist deutlich rauer geworden. Die polarisierenden Kräfte prägen, wie in vielen anderen Ländern, zunehmend die öffentlichen und privaten Debatten. Von dieser Zerrissenheit, die nicht aus dem Nichts entstanden ist, zeigt Wortmanns Film kaum etwas. Da bewegte sich etwa David Wnendts „Er ist wieder da“ trotz seines Spielfilmkorsett näher am Puls der Zeit.

Cinemaxx, Kulturbrauerei

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