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Kultur: Chronik eines Attentats

Wettbewerb (1): „Paradise Now“ – der erste Bären-Favorit

Khaled steht vor der Videokamera. Er hat ein Palästinensertuch umgeworfen, die Kalaschnikow in die Hüfte gestemmt und liest seinen Text ab: Von Allah und vom Heiligen Krieg ist die Rede. Aber die Kamera funktioniert nicht, er muss sein Märtyrer-Vermächtnis noch einmal aufsprechen. Als die Technik endlich funktioniert, nutzt Khaled die Gelegenheit, um der Mutter noch schnell mitzuteilen, wo sie ihre Wasserfilter billiger kaufen kann.

Es sind die kleinen, bitterkomischen Augenblicke, mit denen „Paradise Now“ es vermeidet, zu einem Pro-Palästinenser- oder Anti-Israeli-Pamphlet zu werden. Der Moment, in dem die Männer hinter der Kamera noch schnell ins PitaBrot beißen. Der Moment, in dem sich Said mit Klopapier den Schweiß unter dem Sprengstoffgürtel abwischt.

Kaum zu glauben, dass das geht: einen Film über den letzten Tag zweier palästinensischer Selbstmordattentäter zu drehen, der zwar nicht unparteiisch ist, aber auch nicht propagandistisch. Den KFZ-Mechanikern Khaled (Ali Suliman) und Said (Kais Nashef) wird mitgeteilt, dass es morgen soweit ist. Sie verbringen die Nacht bei der Familie in Nablus, treffen den Anführer, werden gewaschen, rasiert, in Sprengstoffgürtel und Anzüge gesteckt und an die Grenze gefahren, wo auf der anderen Seite das Auto wartet, für die Fahrt nach Tel Aviv. Letzte Zigarette. Aber es geht etwas schief, die beiden müssen wieder nach Nablus zurück.

Zweiter Versuch. Ist es richtig, was wir tun?, fragt Khaled. Die junge, schöne Suha (Lubna Azabal), mit der Said in der Werkstatt noch ein wenig geflirtet hatte, versucht den beiden das Attentat auszureden. Gewalt, sagt sie, macht aus Opfern nur neue Täter. Am Ende tritt Said seine Mission alleine an. Er sitzt im Bus in Tel Aviv, neben etlichen israelischen Soldaten, die Kamera fährt auf sein Gesicht zu, die Augen in Großaufnahme. Abspann.

„Paradise Now“ ist ein nüchterner, radikal zurückgenommener Film. Eine niederländisch-deutsch-französische Koproduktion, unter erschwerten Bedingungen an Originalschauplätzen gedreht: zerstörte Häuser, Alltag einer belagerten Stadt. Keine Musik, keine Gewalt, kein Drama. Der Schauwert der Cinemascope-Aufnahmen bemisst sich am Dokumentarischen: Die Bilder erklären nichts, machen keine politische Rechnung auf, zeigen nur diesen einen Tag. Wir wollten, sagt der palästinensische Regisseur Hany Abu-Assad („Rana’s Wedding“), den Attentätern ein Gesicht geben.

Das letzte Essen von Khaled und Said findet an einer langen Tafel statt. Eine Abendmahlszene. Bei da Vinci, erläutert Abu-Assad in der Pressekonferenz, ist sie in göttliches Licht getaucht. In „Paradise Now“ findet sie unter einer Neonröhre statt: „Wir wollten den Mythos umschreiben, aus realistischer Perspektive.“

Anders als ihr Anführer, der junge Menschen ungerührt in den Tod schickt, sind die Attentäter keine Fanatiker. Saids Schüchternheit, Khaleds Nervosität sind mit dem Stereotyp vom Terroristen nicht vereinbar. Aber der Täter mit menschlichem Antlitz – ist das nicht auch ein Stereotyp? Selbst dafür bleiben die beiden zu gewöhnlich, zu verhalten, bleibt der Film zu ungerührt. Er menschelt nicht, sympathisiert nicht: Das Innere seiner Protagonisten gibt er nicht preis. Nur ein paar Eckdaten: Khaled verliert seine Arbeit, hat keine Zukunft. Said empfindet Scham, weil sein Vater als Kollaborateur exekutiert wurde. Also doch ein bisschen Psychologie: Der arabische Ehrbegriff spielt bei der Motivation der Attentäter oft eine Rolle. Im Ladenregal stehen neben den Märtyrer-Videotestamenten auch Hinrichtungs-Videos. Sie kosten gleich viel.

Wer eine Kamera in die Wirklichkeit stellt, bezieht unweigerlich Position. Eine Haltung lässt „Paradise Now“ gerade in seiner Verhaltenheit deutlich erkennen: Der Film scheut sich, dem aggressiven Nahostkonflikt auch noch aggressive Bilder hinzuzufügen. In den Bus mit dem kleinen Mädchen steigt Said nicht, wohl aber in den voller Soldaten. Nur eine Frage: Ob Said nicht doch Skrupel empfindet. Angesichts des täglichen Bombenterrors im Nahen Osten ist das in diesem großen, stillen Film eine winzige Hoffnung.

Heute, 9.30 Uhr und 23.30 Uhr (Urania); 20 Uhr (International)

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