zum Hauptinhalt
Toxische Faszination. Der zweite Nukleartest namens Baker im Rahmen der Operation Crossroads auf dem Bikini-Atoll 1946.

© mauritius images / Science Source / Science Source

Climate Poetry: Verstrahlte Schönheit

In ihrem dritten Gedichtband „Nicht warten auf King Tide“ schaut Judith Hennemann den Umweltkatastrophen dieser Welt ins Gesicht.

Von Gregor Dotzauer

Stand:

Was hat Lyrik eigentlich inmitten der verstrahlten Schönheit des Bikini-Atolls im Pazifischen Ozean zu suchen?  Ist sie nicht das schwächste Mittel, um an die Atomwaffenversuche der Amerikaner nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern?

Der deutsch-amerikanische Dichter Paul-Henri Campbell hat das schon in „warme atolle“, einem fünfteiligen Zyklus seines letzten Bandes „innere organe“ (Wunderhorn), mit dem Hinweis auf ein „register unzumutbarer schändungen“ beantwortet. Wie anders soll Kunst ihre Berechtigung nachweisen, einen Sinn für die Paradiese dieser Welt zu entwickeln, wenn sie nicht zugleich die Verheerungen im Blick hat – „du weißt schon das schwarze ortsverzeichnis“.

Auch die Frankfurter Dichterin Judith Hennemann, Jahrgang 1975, wendet sich in „Besser nicht warten auf King Tide“, dem Titelzyklus ihres dritten Gedichtbandes, nun den Marshall-Inseln zu. Ihre überwiegend im Blocksatz abgefassten, einmal auch in die Silhouette der Bundesrepublik eingepassten Texte, entfalten ihre assoziative Kraft auf der Basis gründlicher Recherche.

Ihre Aktualität gewinnen sie nicht zuletzt daraus, dass der Runit Dome, der plutoniumgefüllte Beton-Sarkophag auf der gleichnamigen Insel, Risse bekommen hat. Die klimabedingt drohende Überflutung des Eilands macht die Situation zusätzlich gefährlich.

Hennemann, im Hauptberuf Industriesoziologin, denkt Vergangenheit und Gegenwart übergangslos zusammen und schlägt, wenn es darauf ankommt, den Boden in andere Regionen.

„Es regnet explodierte Korallen und qualmendes / Salzwasser“, heißt es. „Die Insel sturmreif geschossen, Wide Entrance / Deep Entrance, Downside. König Juda spricht: / Alles ist in Gottes Hand. King Tide [67 Druck- / wellen und 1 Archipel im Bauch, Feigen, Oliven und Makrelen klaffen wie silbrige Walnüsse] wiegt / seinen Kopf, nimmt das gebrauchte Land ein. / Eine Lücke im Kiefer des Archipels. Der Pazifik saugt / am schmerzenden Zahn. Begrabene Häuptlinge / kehren zurück. Majuro taucht wieder auf, atemlos, / bebend. Auf dem Strand aus Portland-Zement / glänzen Coke- und Sake-Flaschen mit magischen Einreisedokumenten. Doch das Gift ist schon in mir.“

Auch der Zyklus „Deltagesetze“ über die größte Sturmflutabwehr der Welt in den Niederlanden fügt sich in die Gattung der Climate Poetry. Daneben gibt es sehr viel persönlichere Texte – ein Teil davon auf Englisch, um eine unverbrauchte Form des Sprechens auszuprobieren.

Wie in ihrem Debüt „Bauplan für etwas anderes“ aus dem Jahr 2017 kreuzen sich hier mit Fachsprachen aufgeladene Wort- und Wissensfelder mit persönlichen Impressionen. In der Verarbeitung des Materials ist sie, wie sich schon im Nachfolgeband „all die goldenen Hunde“ andeutete, noch einmal souveräner geworden.

Die Verquickung von so unterschiedlichen Bereichen wie Naturkunde und Technikgeschichte, Genomentschlüsselung, Neurowissenschaften und Big-Data-Reflexionen, die damals mitunter noch gezwungen wirkte, findet hier wie selbstverständlich statt. „Tägliche Beschulung in Ratlosigkeit“, lautet ein Vers, der als Motto dienen könnte. Diese Gedichte enthalten aber auch schon den Ansatz zur Gegenwehr.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })