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Der Rapper Aykut Anhan alias Haftbefehl.

© Brede

Comeback mit "Das weiße Album": Rap-Eminenz Haftbefehl beweist seine Ausnahmestellung

Der Offenbacher Straßenrapper Haftbefehl hat sein lang erwartetes "Weißes Album" veröffentlicht. Mit dabei sind Gäste wie Marteria, Gucci Mane und Shirin David.

Letzte Woche in New York: Demonstranten auf der Manhattan Bridge sind vom NYPD eingekesselt und können die Brücke nicht verlassen. Also rufen sie den Polizisten den Ludacris-Refrain „Move bitch, get out of the way!“ zu.

Der Song ist eigentlich nicht politisch, sondern nur eine seiner vielen Clubhymnen. Aber im richtigen historischen Moment wird aus dieser Clubhymne eine politische Parole.

Erinnerungssong für die Opfer von Hanau

Diese leichte Dissonanz stellte sich auch im März ein, als der Rapper Haftbefehl sein Video zum Song „RADW“ („Rücken an der Wand“) mit einer Erinnerung an die Opfer des rassistischen Terroranschlags von Hanau eröffnete.

Der Song ist wütend, der Beat hart – aber der Text ist eigentlich die übliche Mischung aus depressiven Gewaltszenarien und Dekadenz, die Haftbefehl immer noch wie kein anderer im Deutschrap beherrscht, mit Lehnwörtern aus vielen verschiedenen Sprachen. Kein Aufruf zum antifaschistischen, antirassistischen Kampf, auch keine Trauer, und trotzdem der richtige Track zur richtigen Zeit.

Seit Haftbefehls Durchbruch mit „Chabos wissen, wer der Babo ist“ 2012 muss seine Musik gegen alle möglichen Projektionen bestehen: skuriller Proll-Hip-Hop oder Avantgarde-Lyrik über eine zersplitterte Welt? Zynisch-ignorante Stories aus Deutschland bei Nacht oder eine große Erzählung über Fremdsein und Entfremdung zwischen Migration und Diaspora?

Oder einfach nur richtig guter Straßenrap, der mit den amerikanischen und französischen Vorbildern mithalten kann, weil er eine ganz eigene deutsch-türkisch- arabisch-französisch-zaza-englisch-spanisch-jiddische Sprache gefunden hat?

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Mehr als fünf Jahre liegt sein letztes Album „Russisch Roulette“ zurück, eine ganze Rap-Generation. Vielleicht schauen die 17-jährigen, die Mero und Capital Bra hören, spöttisch auf die Alten, die sehnsüchtig an das erste Mal „Sommernacht in Offenbach“ denken und eigentlich nur eine Frage haben: neue Haftbefehl wann?

„Das weiße Album“ („DWA“), das nach Corona-Verspätung jetzt bei Universal erscheint, darf also nicht einfach nur eine sehr gute Platte mit sechs Hits, fünf guten Songs, zwei Experimenten und einem Ausfall sein, sondern muss beweisen, dass im Deutschrap immer noch gilt, dass erst Haftbefehl kommt und dann alle anderen.

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Solche Alben beginnen gerne mit der Inszenierung einer triumphalen Rückkehr des Königs, aber Haftbefehl will keine Paraden und sitzt lieber einsam in seinem Thronsaal. Merkwürdig gedämpft durchmisst er auf der melancholischen Großdealerballade „Bolon“ sein angebliches Drogenimperium, das eher Allegorie für seine Karriere als Rapper und Labelchef ist als reine Machtfantasie eines Offenbacher Jungen mit zu vielen Gangsterfilmen im Kopf.

Ein Bild aus dem dazugehörigen Video – Haftbefehl auf dem Beifahrersitz eines Wagens, der müde mit den Fingern aus dem Fenster feuert – fängt die abgeklärte Stimmung des Albums ein.

Die Wortgewitter waren immer eher der Oberflächenreiz, eigentlich war es dieser Hang zu Melancholie und Traurigkeit, mit denen sich Haftbefehl im Deutschrap-Genre profilieren konnte. Hier deckt sich die Kunstfigur auch am stärksten mit ihrem Erfinder und Interpreten, dem 34-jährigen Aykut Anhan aus Offenbach, Sohn einer türkischen Mutter und eines zazaisch-kurdischen Vaters, der vor der Rapkarriere mit kleinen und größeren Deals Geld verdient hat.

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Mit den kurzen, über das Album verteilten „1999“- Songs kehrt Haftbefehl in diese Zeit zurück. Auf dem Vorgänger war ihre komplizierte Nostalgie ein optimistisches Gegenwicht zum Gangstergeschäftsgebahren.

Auf „DWA“ fehlen diese unbeschwerten Momente. Damit hat sich Haftbefehl von seinem erklärten Vorbild Biggie Smalls entfernt, der neben den kalten Blicken in die Gewaltlabyrinthe der Straße immer auch Partytracks im Angebot hatte – die gerade deswegen so überzeugten, weil sie im Bewusstsein der „everyday struggles“ geschrieben waren

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Auch Haftbefehl präsentiert zwischendurch Exzesse, aber Kater und Kopfschmerz sind immer schon mit dabei. Auf „Ice“ versucht er sich an Luxusrap über Rolex mit Diamanten, aber der Gaststar, die Südstaatengröße Gucci Mane, läuft elegant mit dem Song weg, bevor er überhaupt richtig angefangen hat, und muss sich dafür noch nicht einmal anstrengen

Wut auf die Konkurrenz

Haftbefehls Flow hat sich stark verändert: die Syntax ist noch brüchiger geworden, die Stimme zerrt noch mehr nach oben. Er kämpft oft buchstäblich gegen den brachialen Sound seines Produzenten Bazzazian an. Abwechslung erfolgt durch verletzliche und verletzte Autotune-Songs, die sich Themen wie Liebe und Familie widmen. An anderer Stelle wird trotzdem über Autotune-Rapper geschimpft.

Überhaupt hat sich in den letzten Jahren viel Wut auf die Konkurrenz angestaut. Der Grund ist trivial: Haftbefehl war noch nie „auf der 1“, trotz des großen Hypes. Darauf scheiße er aber, verkündet er, und hat dafür einen guten Grund: sein legendärer Vertrag mit Universal gibt ihm Budgets und Gewinnbeteiligung, von denen andere nur träumen; egal, wie viele Instagram-Likes sie haben.

Was kümmert mich die Zuneigung der Fans, wenn ich reich bin: eine schöne Pointe, bei der Haftbefehl klingt wie der Biggie-Epigone Jay-Z, für den jede künstlerische Entscheidung in erster Linie eine kommerzielle ist.

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Bei Haftbefehl zeigt sich das in der Wahl der Featuregäste. Keine anderen Gangster, sondern einen arroganten Lifestylerapper (Shindy), einen sympathischen Lifestylerapper (Marteria), einen US-Star (Gucci Mane), einen Weirdo mit Hype (Ufo361), ein Familienmitglied, das Support braucht (sein Bruder Capo) und schließlich die YouTuberin Shirin David, die den Begriff „fuckboi“ für unzuverlässige, verlogene Typen im Wortschatz ihrer jugendlichen Fans etabliert hat, was dereinst einmal als genuin feministischer Akt geehrt werden wird. Hier gibt sie die Kriegerprinzessin an der Seite von Hafti-Conan und imitiert Nicki Minaj.

Ein Knäuel von Widersprüchen

Die USA und ihre Rapper bleiben für Haftbefehl Hassobjekt und ewiges Vorbild zugleich. Seine Musik lebt von solchen Widersprüchen. In den besten Momenten kann er sie zu einem großen verworrenen Knäuel verwickeln und den Hörern ins Gesicht schmeißen.

Die können dann „Kapitalismus“, „männliche Gewalt“, „Deutschland“ oder einfach „das Leben“ auf das Knäuel schreiben und versuchen, es aufzutrennen. So fahrig und erschöpft „DWA“ manchmal klingt, mehr traurige Verwirrung als Haftbefehl hat immer noch niemand zu verkaufen.

Ganz am Ende erinnert er sich noch einmal an seine Jugend, schaut in die Sterne und stellt ganz sachlich fest: „verflucht war meine Kindheit“. Er würde dieses Wort natürlich nicht benutzen, aber dahinter steht das Eingeständnis, dass er, der Gangsterboss mit der AK, der Rapmillionär mit Koks-Kilos auf dem Spiegeltisch, auch einmal Opfer war, und nie wieder eins sein möchte. Was das 2020 bedeutet, und ob das schon Politik ist, lässt er die Hörer selbst entwirren.

Fabian Wolff

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