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Reisende durch Raum und Zeit: Eine Szene aus dem aktuellen fünften Band.

© Splitter

Science-Fiction-Comic: Beam me up, Bourgeon!

Odyssee einer Weltraumamazone: François Bourgeon, seit „Reisende im Wind“ Meister der langen Comicerzählung, setzt mit Claude Lacroix den SF-Zyklus um „Cyann - Tochter der Sterne“ fort. Vor allem die utopischen Planetenwelten überzeugen.

In seiner Spezialisierung ist er bis heute unerreicht: einerseits die naturalistischen, handwerklich virtuosen Zeichnungen, andererseits der gehobene literarische Erzähl-Anspruch. François Bourgeon gehört zu den Solitären unter den französischen Comiczeichnern, seit er Anfang der Achtziger Jahre mit der Fortsetzungsreihe „Reisende im Wind“ eine der ersten epischen Comicerzählungen schuf und damit dazu beitrug, den anspruchsvollen Comic auch hierzulande salonfähig zu machen. Obwohl in fünf Bänden veröffentlicht, ergibt die Lektüre aller Bände zusammen den Eindruck eines Romans bzw. eines in Episoden erzählten Zyklus um eine kleine Gruppe von Personen, und ähnlich den Protagonisten in klassischen Entwicklungsromanen des 18. Jahrhunderts macht die zentrale Figur einen Reifungsprozess durch. Mit geradezu manischer Sorgfalt recherchierte er für seine Dekors, um das 18. Jahrhundert und die damaligen Schiffstypen so authentisch wie möglich darzustellen. Ebenso viel Wert legte er auf die Authentizität der Handlung und der historischen Hintergründe, die er in Kriegs-, Vergewaltigungsszenen oder in der Behandlung des Themas Sklavenhandel für damalige Verhältnisse äußerst grausam, aber eben auch ungeschönt ausmalte.

Das Purpurfieber bedroht die Zivilisation

Ebenso verfuhr Bourgeon mit seiner zweiten großen epischen Serie, den „Gefährten der Dämmerung“, die das Mittelalter nicht weniger realitätsnah einfing – wobei er hier auch Fantasy-Elemente einbaute. Bourgeons Geschichten eigen sind vor allem: raue Sitten, brutale bis barbarische Handlungen vergangener Epochen; eine bildhübsche, emanzipierte weibliche Hauptperson, die den männlichen Charakteren immer einen Schritt voraus ist und auch in erotischen Dingen selbstbewusst, unabhängig, geradezu modern ist; ein schwarzer Humor, der oft in den Dialogen der Figuren deutlich wird, die das (blutige) Geschehen zynisch kommentieren.

Diesen Vorlieben bleibt er auch in seinem Science-Fiction-Zyklus treu. Schon 1990 begann Bourgeon die Arbeit an „Le cycle de Cyann“ („Der Zyklus von Cyann“; auf deutsch: „Cyann - Tochter der Sterne“), für dessen Story vor allem sein Ko-Autor verantwortlich zeichnet: Claude Lacroix, ebenfalls Zeichner (u.a. „Der Mann mit dem weichen Hut“, erschienen in den Magazinen „Pilot“ und „U-Comix“; gelegentliches Pseudonym: Tartempion), aber auch Szenarist.

Cyann Olsimar ist die Tochter von Lazuli Olsimar, dem Oberhaupt bzw. „Patriarchen“ des hoch zivilisierten Planeten Olh, auf dem Menschen in einer dem indischen Kastensystem ähnlichen Gesellschaftsordnung leben. Die 17jährige Schönheit führt das hedonistische Leben einer verwöhnten Adeligen der „Majo“-Kaste, wurde aber in Kampf, Raumfahrt und anderen Disziplinen perfekt ausgebildet, um später eine gehobene politische Funktion auszufüllen. Umgeben ist die mutterlos Aufgewachsene von ihrer besten Freundin Nacara (aus der niederen Kaste der „Mino“) sowie ihrer jüngeren Schwester Azuree. Während sich Cyann – oft in Begleitung von Nacara, die als vernunftorientierter Gegenpart dient - vornehmlich erotischen Abenteuern oder anderen Streichen hingibt, um ihren stark ausgeprägten Freiheitsdrang auszuleben, befindet sich ihr Planet in einer ernsten Krise: eine Seuche namens „Purpurfieber“ verbreitet sich, und gerade unter den wohlhabenden Majos befinden sich viele (ausschließlich männliche) Betroffene. Cyanns Bruder ist diesem erst kürzlich zum Opfer gefallen, der Vater ist ebenfalls erkrankt. Dieser schickt seine Tochter auf eine wichtige Mission: eine Expedition zum entfernten „wilden Planeten“ Ilo, wo der Ursprung der Seuche vermutet wird und ein Heilmittel gesucht werden soll. Doch es gibt verschiedene konkurrierende Mächte des Familienclans der Olsimar, die Cyanns Reise vereiteln wollen...

Fortsetzung folgt: Die Covermotive des ersten und fünften Bandes.
Fortsetzung folgt: Die Covermotive des ersten und fünften Bandes.

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Ausgerechnet der einführende Band „Der sterbende Planet“ macht es dem Leser schwer, in die Welt der Cyann einzusteigen – so wird man in die komplexen Machtverhältnisse und zahlreichen, eigentümlich benannten Gruppierungen der Gesellschaft auf Olh hineingeworfen, ohne dass sie ausreichend eingeführt oder erklärt werden. Das geht auf Kosten der Stringenz und Verständlichkeit (in Frankreich ist bereits 1997 der Zusatzband „La clé des confins“ erschienen, der die Welt Cyanns in ihren Einzelheiten ausleuchtet, geologische und gesellschaftliche Details erklärt und womöglich Licht ins Dunkel mancher Zusammenhänge bringt).

Klug konzipierte Dystopien mit viel Realitätsbezug

Im zweiten Band „Sechs Monde auf Ilo“ erreicht Cyann mit einer Einsatzgruppe (darunter Nacara) den Planeten Ilo. Dieser Band ist einer der gelungensten, da man mit Cyann zusammen den neuen Planeten erkunden kann, der zahlreiche unerwartete Gefahren birgt und Cyann das erste Mal echte Liebe erfahren lässt. Zum Ende wird das Erzählprinzip eingeführt, das die kommenden Bände durchzieht: Cyann wird zur Einzelgängerin, die von einem „Ve“, einem höherentwickelten humanoiden Wesen der Zukunft, die Erlaubnis bekommt, durch sogenannte Raum-„Pforten“ zu reisen – womit sie sich auf jeden beliebigen Planeten „beamen“ kann. Das wirft neue Probleme auf, denn wo sie auch landet, wird sie als unwillkommener Eindringling wahrgenommen und erstmal festgehalten – sei es von den Schergen der Machthaber oder von Privatpersonen, die sie als Sklavin halten wollen (Band 3 „Aieia von Aldaal“).

Am Ende von Band 4 „Die Farben Marcades“ wird dieses Prinzip noch mal reizvoll variiert –  dann wird Cyann die Gelegenheit geboten, nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich zu reisen. Sie besucht ihren Heimatplaneten Olh in der Zukunft und erlebt eine Überraschung: ihre einst beste Freundin Nacara hat eine Wandlung durchlaufen, die Konsequenzen für den ganzen Planeten hatte…

Schwer zugänglich: Eine Szene aus dem ersten Album - das weniger gelungen als der Folgeband ist.
Schwer zugänglich: Eine Szene aus dem ersten Album - das weniger gelungen als der Folgeband ist.

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Wie man sieht, ist die Handlung anspruchsvoll konzipiert, gespickt mit Ränkespielen der beteiligten Personen und Mächte - mitfühlendes Verhalten kommt kaum vor. Cyann durchläuft eine Entwicklung von der selbstverliebten, aufreizende Sprüche klopfenden Teenagerin zur verantwortungsvollen Frau, die Anteil am Schicksal der Ausgestoßenen nimmt. Die unterschiedlichen Zivilisationen auf den Planeten Olh, Ilo, Aldaal oder Marcade sind klug konzipierte Dystopien, die manche Gegebenheiten auf unserem Planeten nur zuspitzen (in manchen Dialogen ist die Rede von einem blauen Planeten, auf dem alles begann – doch vermutlich handele es sich dabei nur um einen Mythos).

Im aktuellen Band 5 „Die Korridore der Zwischenzeit“ erfährt Cyann, dass ihre Schwester Azuree ermordet wurde. Um sie zu retten, muss Cyann in die Vergangenheit reisen und damit in die Zeitläufte eingreifen…

So oft sich der Plot in den Verästelungen seines eigenen Labyrinths zu verlieren droht, bekommt er im vierten Band doch noch die Kurve, drängt zurück zum Anfang und weist die Richtung für die abschließenden zwei Teile.

Der Abschlussband ist für Herbst 2014 geplant

Grafisch ist alles aus einem Guss „à la Bourgeon“, doch Claude Lacroix’ visueller Anteil sollte nicht unterschlagen werden: er ist auch an Entwürfen mancher Planeten-Flora und -Fauna beteiligt, hat etwa die erotische Architektur des vierten Bandes entworfen und einige der Fantasy-Wesen, wie das riesensaurierähnliche, friedliche „Dogodogon“ auf Olh. Letzte Hand hatte aber Bourgeon, sodass alle bislang erschienenen Bände von dessen gewohnter grafischer Kunst zeugen, was man auch anhand der ausgefeilten Farbdramaturgie erkennen kann: In den ersten beiden Bänden überwiegen gedämpfte blaue (Cyan!) und grüne Farbtöne, im Band 3 kommen erdige Gelb-Braun-Töne hinzu, im Band 4 dominiert ein kräftiges Rot, das der Erotik wie der infernalischen Dekadenz der geschilderten konsumgeilen Gesellschaft entspricht, gegen Ende dieses Bandes sowie im folgenden Band 5 schließlich wird es mit der Rückkehr zum Heimatplaneten wieder kühler, blaugrün. Nicht zuletzt in der leuchtenden, aber nie knalligen Farbkraft seiner Seiten zeigt sich auch Bourgeons Herkunft: die Glasmalerei.

Die wechselnden Planeten auf der Odyssee seiner Heldin bieten dem Zeichner Anlass zu atemberaubenden Ausgestaltungen dieser imaginären utopischen Welten. Dabei ist eine beeindruckende visuelle Vielfalt entstanden: gewaltige architektonische Kreationen, Konsumtempel oder Riesenbordelle, die vom Reichtum dekadenter Wohlstandszivilisationen zeugen; Dschungellandschaften; Wüsten- und Sumpfgebiete, wo Armut meist zu verrohten Gemeinschaften führte; tropisch bewachsene Gebirge. Diese Schauplätze sind nie bloßes Dekor, sondern verweisen immer auf die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse.

Mit der Konzeption ihrer durchs Weltall irrenden sexy Heroine haben François Bourgeon und Claude Lacroix ein fürs Auge attraktives, abwechslungsreiches Konzept für ihre Abenteuer-SciFi-Reihe gefunden. Alle Bände sind vom Splitter Verlag vorbildlich ediert worden, in Hardcover gebunden und durch zahlreiche Einblicke in Bourgeons Sketchbook ergänzt, etwa Figuren- oder Kostümstudien, Landschafts- und Architekturskizzen. Augenblicklich arbeitet der 67jährige Meisterzeichner noch eifrig am letzten sechsten Band, der im Herbst 2014 erscheinen soll.

François Bourgeon, Claude Lacroix: „Cyann - Tochter der Sterne“, Bände 1- 5 (von 6) in Hardcover, incl. Bonusmaterial, Splitter Verlag, aktueller Band 5: „Die Korridore der Zwischenzeit“, 81 Seiten, 18,80 Euro. Leseproben auf der Website des Verlages.

Unser Autor Ralph Trommer ist Dipl.-Animator, Autor von Fachartikeln über Comics, Prosatexten und Drehbüchern. Weiter Tagesspiegel-Artikel von ihm unter diesem Link.

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