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© Illustration: Lemire

Graphic Novel: Das Gesicht der Angst

Klug, gefühlvoll und bewegend: Das psychologische Drama „The Nobody“ ist ein weiteres Meisterwerk des kanadischen Autors und Zeichners Jeff Lemire.

Der Kanadier Lemire, der berechtigterweise als junges und großes Talent besungen wird , beweist auch in seiner jüngsten längeren Veröffentlichung „The Nobody“, dass er es meisterhaft versteht, die Kunstfertigkeit seines flüchtigen Strichs, die Finesse seiner bedachten, fast schon zögerlichen Erzählweise und sein ausgeprägtes atmosphärisches Gespür zu einem in sich geschlossenen und vor allem wiedererkennbaren Ausdruck zu verwandeln.

Die Enge der kleinstädtischen Zwänge und das Ausgeliefertsein des nonkonformen Einzelnen vor der ständigen Kontrolle der Gemeinschaft schilderte Lemire bereits in seiner Kurzgeschichtenanthologie „Essex County“ sehr eindrücklich, und nicht wenige dieser genau beobachteten Szenen werden unvergessen bleiben. Sein Ruf des Erneuerers der Bildsprachlichkeit liegt auch darin begründet, dass Lemire keine panischen, urbanen Visionen skizziert, sondern vielmehr die Bedrohlichkeit und Trostlosigkeit der ländlichen Idylle illustriert und folgerichtig auch die Begehrlichkeiten nach einem Ausbruch aus dieser festgefügten Ordnung. Er nutzt dieses bereits in den Vorgängergeschichten großzügig umrissene Setting nun erneut um eine neue, eine andere Art einer altbekannten Geschichte zu erzählen, bei welcher die Ideenwelt von H.G. Wells „The Invisible Man“ Pate steht.

Ein Fremder, bandagiert von Kopf bis Fuß, dringt ein in den kleinstädtischen Kosmos eines beschaulichen Fischereikaffs. Natürlich löst seine Erscheinung Verwunderung aus, aber eben auch Argwohn, Misstrauen und sogar Hass.

Dennoch: Der Andere wird Teil dieser Welt und arrangiert sich mit ihren Regeln, er stört nicht, er provoziert nicht, er ist einfach da - und irgendwann Teil dieses Gleichmaßes.

Seine einzigen Zugänge zur äußeren Welt bestehen in den nächtlichen Spaziergängen und den Besuchen im örtlichen Restaurant, um sich dort mit Speisen zu versorgen, welche er aber auch - unter Hinweis auf seine Scham in der Öffentlichkeit zu essen - in seinem Appartement zu sich nimmt.

Seine Haltung sich selbst aus dem Kollektiv auszuschließen, führt immer schneller zu Gerüchten, manch einer glaubt seine Bandagen seien bloß ein Mittel, um seine eigentliche Identität zu verwischen. Sie glauben, er sei ein gesuchter Verbrecher, ein Tunichtgut, ein Gefährder.

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Ohne Grenzen. Traum und Realität verschwimmen in »The Nobody«.

© Illustration: Lemire

Einzig Vicky, die Tochter des Restaurantbesitzers, selbst von ihrem ereignisarmen Provinzleben gelangweilt, sucht die Nähe des Fremden, der weder Geschichte, noch eine Persönlichkeit zu haben scheint, der ein Niemand ist, welcher Vicky mit einigen wenigen (nicht überprüfbaren) Informationssplittern abfüttert.

Trotz (möglicherweise aber gerade wegen) der ungestillten Neugier kommen sich die beiden näher, zu nahe wie der Vater glaubt, der ihr jeden weiteren Besuch bei der undurchsichtigen Person untersagt.

Lemires wundervolle, gefühlvolle Panels sind unaufgeregt, hintergründig und in ihrer Reduktion absolut vollständig, hier findet sich kein Strich zuviel und keine Detailorgie vergällt das Vergnügen diese Seite mit den Augen zu durchwandern.

Der sanfte, zurückhaltende Schwarz-Weiß-Stil, welcher durch die Zugabe einer zartblauen Schmuckfarbe kontrastiert wird, macht diesen Comic in einer gewissen Weise zeitlos. Lemires Schaffen könnte, wären nicht all die Details im Begleittext zu finden, durchaus aus den 80ern stammen.

Hier schielt niemand nach dem schnellen Thrill, versagt sich selbst die strohfeuerhellen Effekte und reiht nicht optischen Schlüsselreiz an Schlüsselreiz. Diese Unzeitgemäßheit, diese Abkehr von bereits erprobten (und erfolgreichen) Modellen machen diesen Comic zu etwas Besonderem.

Und auch das Finale, welches sich durch eine begnadete Beobachtungsgabe von gesellschaftlichen Dynamiken auszeichnet und von einem unterkühlten, analytischen Wesen geprägt ist, wird man sicherlich nicht so schnell aus dem Gedächtnis streichen können/wollen.

Lemire gelingt eine glaubwürdige Anatomie kleinstädtischer Befindlichkeiten, ein kluges psychologisches Portrait des Umgangs mit dem Fremden/Anderen und eine hinreißende Geschichte zweier Menschen, deren Vertrauen zueinander wächst, weil sie sich eben nicht kennen.

Ich glaube, wenn in den letzten Jahren von einer gekonnten und werkgerechten Adaption von literarischen Vorlagen gesprochen werden kann, dann bei dieser „Graphic Novel“ - und ich mache keinen Hehl aus meinem Vorbehalt gegenüber dieser wenig trennscharfen Begrifflichkeit.

Aber Lemire erfüllt alle notwendigen Kriterien, keine der beiden Formen beherrscht die andere, nie dominiert der Text die Bilder oder vice versa, er schreibt dort, wo Bilder inadäquat wären und zeichnet dort atmosphärisch, wo eine zu dekodierende Schriftlichkeit den Zauber rauben würde.

Jeff Lemire: The Nobody, Vertigo/Titan Books, 144 Seiten, ca. 15-20 Euro.

Mehr von unserem Gastautor Markus Dewes finden Sie auf seinem Blog derdigitaleflaneur.blogspot.com.

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