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Letzter Begleiter: Der Eremit bei der Arbeit.

© Avant

Sterbehilfe: Entscheide Dich!

Leben oder Sterben? Die Hamburger Zeichnerin Marijpol thematisiert in ihrer kunstvollen Graphic Novel „Eremit“ fundamentale Fragen.

Der ehemalige Ärztekammerpräsident Karsten Vilmar war es, der 1998 mit seiner Aussage über ein „sozialverträgliches Frühableben“ für einiges Aufsehen sorgte. Die Gesellschaft für deutsche Sprache kürte den Begriff sogar zum Unwort des Jahres. Seitdem schwebt es, mal mehr, mal weniger präsent, über unserer immer älter werdenden Gesellschaft. Und auch wenn der Titel von Marijpols neuer Graphic Novel einen anderen Eindruck vermittelt, so geht es in „Eremit“ doch gerade um eine im Wortsinne hoffnungslos überalterte Gesellschaft.

In ihr dreht sich alles nur noch um einen möglichst schönen, wenn nicht perfekten Tod. Um diesen auch wirklich erleben zu können, bieten Agenturen überteuerte Pauschalreisen ins Jenseits an. Zum Dank der „frühzeitigen Entlastung des Sozialstaates“ winkt den Hinterbliebenen sogar ein Bonus.

Herr und Frau Albrecht haben keine Verwandten. Sie haben sich entschlossen ihrem Leben ein Ende zu setzen. Ihre letzte Reise führt sie in einen Urwald, in dem sie von einem so genannten Fleischmagneten, einem Ungeheuer mit Schlangenkörper und Walrosskopf, ihrer Körper und somit aller Schmerzen entledigt werden. Bevor die übriggebliebenen Köpfe des Paares mit einem Elixier betäubt und eine Klippe hinabgestoßen werden, tritt der Eremit in Erscheinung.

Der Eremit lebt schon lange allein im Urwald und arbeitet als Entschlussprüfer für die Todestouristik. Dabei ist ausgerechnet er ein Mensch, der sich niemals für oder gegen etwas entscheiden kann. Sein Kopf ist tief in zwei Hälften gespalten, die von einem Gürtel mehr schlecht als recht zusammengehalten werden. Wird der Eremit zu einer Entscheidung gedrängt, geschieht es nicht selten, dass sein Kopf regelrecht berstet. Eine Sonderbarkeit, die sich bei ihm bereits im Kindesalter abzeichnete, als es einfach immer zu viele Eissorten zur Auswahl gab.

Marijpol entwirft in ihrer Graphic Novel eine ins Phantastische abdriftende Dystopie, die von einem fundamentalen Widerspruch geprägt ist. Die Möglichkeit, aus einem Überangebot frei wählen zu können, führt zu einem Entscheidungszwang, dem der moderne Mensch nicht standhält. Der unendliche Erwartungsdruck gegenüber sich selbst und anderen immer die richtige Entscheidung zu treffen, ruft in manchen Fällen eine Spaltung des Ichs hervor und führt es mitunter in die selbstgewählte Isolation. Dieser Freiraum muss jedoch nicht automatisch das Paradies bedeuten, auch wenn Marijpol dies in ihrem Comic suggeriert. Möglicherweise schließt sich hier die Entscheidungsfrage für den Leser an, ob er lieber im Kultur- oder Naturzustand leben möchte.

Gespaltener Schädel: Die Hauptfigur auf dem Buchcover.

© Avant

Mit „Eremit“ ist Marijpol eine Story gelungen, die den Finger tief in zwei klaffende Wunden unserer Zeit legt. Zum einen ist das der demografische Wandel. Zum anderen ist es die Überforderung des Einzelnen vor immer vielfältiger werdenden Entscheidungsmöglichkeiten, die mitunter eine Verzweiflung heraufbeschwören, die nur noch eine Entscheidung wichtig erscheinen lässt: Leben oder Sterben?

Marijpol: Eremit, Avant, 216 Seiten, 19,95 Euro, Leseprobe auf der Website des Verlages.

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