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Gegenspieler: Shoko und Shoya sind die Hauptfiguren in „A Silent Voice“.

© Egmont Manga

Gehörlosen-Drama „A Silent Voice“: Das Leiden im Stillen

Yoshitoki Oima hat in „A Silent Voice“ erfolgreich Themen wie Gehörlosigkeit und Ausgrenzung vermittelt. Jetzt wurde ihr Manga neu aufgelegt.

Als die gehörlose Shoko in seine Grundschulklasse kommt, wird Radaubruder Shoya zum Anstifter einer Mobbingspirale, an der sich so gut wie alle Kinder und selbst der Lehrer beteiligen. Die Schikanen führen so weit, dass mehrere Hörgeräte des Mädchens zerstört werden. Zuletzt verlässt es die Schule wieder.

Eine Doppelseite aus „A Silent Voice“.
Eine Doppelseite aus „A Silent Voice“.

© Egmont Manga

Als daraufhin ein Schuldiger für das Geschehen gesucht wird, erklärt man Shoya zum Sündenbock. Selbst seine Freunde wenden sich gegen ihn und er wird selbst zum Ziel von Drangsalierungen. Seine unfreiwillige Isolation zieht sich bis in die Mittelschule hinein. Shoya wird zum Einzelgänger und entwickelt zunehmend Merkmale einer Soziophobie. Das Gefühl der Einsamkeit lässt ihn verzweifeln und an eine düstere Zukunft glauben.

So beschließt der Außenseiter, seinem Leben ein Ende zu setzen. Zuvor möchte er jedoch alle Dinge geklärt wissen und Shoko seine Gefühle mitteilen. Shoya lernt Gebärdensprache und macht das Mädchen ausfindig. Die Begegnung mit ihr verläuft allerdings anders als gedacht …

Mehr als 100.000 Exemplare der Manga-Serie „A Silent Voice“ wurden bisher in Deutschland verkauft - etwa so viel wie die Manga-Fassung des erfolgreichen Anime-Kinofilms „Your name.“ Yoshitoki Oima schildert in „A Silent Voice“ eindrucksvoll und schonungslos, was Mobbing und Ausgrenzung mit jungen Menschen macht. Dafür erhielt sie in Japan den renommierten Osamu-Tezuka-Kulturpreis als beste Newcomerin.

Obwohl die Künstlerin mit der Story 2008 einen Wettbewerb des „Weekly Shonen Magazine“ für ein junges, vorwiegend männliches Zielpublikum gewann, war die Kurzgeschichte erst 2011 veröffentlicht worden. Denn der japanische Verlag sorgte sich aufgrund der schwierigen Themen um die Reaktionen des Publikums.

So kam es, dass der Wettbewerbsbeitrag sogar noch dem Japanischen Gehörlosenbund zur Prüfung vorgelegt wurde. Erst danach druckte man das Werk ohne Änderungen.

Inspiriert von der Arbeit der Mutter

2013 erschien nach einer neuerlichen, die Auflage des Magazins steigernden Veröffentlichung einer überarbeiteten Fassung der Kurzgeschichte schließlich die Serie, die jetzt in Deutschland in neuer Aufmachung als „Luxury Edition“ neu veröffentlicht wird (Egmont Manga, zwei Bände à 633 S., je 30 €). In Japan wurden bislang insgesamt mehr als drei Millionen Bände der Reihe verkauft.

Bestseller: Eine Szene aus „A Silent Voice“.
Bestseller: Eine Szene aus „A Silent Voice“.

© Egmont Manga

Inspiriert wurde die Zeichnerin zu der Story von ihrer Mutter, die Gebärdendolmetscherin ist und ihr bei der Ausarbeitung zur Seite stand.

Heldin Shoko kommuniziert mit den Kindern ihrer Grundschulklasse zwar zunächst über ein Notizbuch, später aber auch vermehrt mit Gebärdensprache. Den wichtigsten Dreh- und Angelpunkt des Mangas bilden Kommunikations- und Verständnishürden aller Art. Das betrifft nicht nur das gehörlose Mädchen. Auch die anderen Figuren werden durch Missverständnisse und Ungesagtes oft vor Herausforderungen gestellt.

Die Bildsprache und die Dialoge in „A Silent Voice“ orientieren sich am Thema. So werden die Hände der Protagonisten häufig in Nahaufnahme gezeigt. Die Hörenden wiederholen das, was Shoko mit Gebärden ausdrückt.

Dennoch bleiben Lücken. Yoshitoki Oima hat auch andere Wege gefunden, Shokos Verständnisprobleme auszudrücken: In einer kurzen Passage schlüpft man mit einem Kniff direkt in die Haut des Mädchens. Die Wörter der anderen sind plötzlich abgeschnitten und verfälscht und damit äußerst schwer zu interpretieren.

Kunstgriffen wie diesem bedient sich der Manga in verschiedenen Situationen: Shoyas Isolation und sein selbst gewähltes Desinteresse an seinen Mitmenschen werden anschaulich dargestellt, indem Yoshitoki Oima die Gesichter sämtlicher Mitschüler mit Kreuzen überlagert, sodass sie kaum noch zu erkennen sind. Erst nach und nach fallen diese ab, wenn Shoya sich ihnen wieder zuwendet und seine Ängste überwindet.

Mit Shoko stellt Oima zunächst eine recht konventionelle Figur vor. Frauen mit Behinderung werden im Manga häufig als schwächer dargestellt als ihre männlichen Kollegen. Sie wecken den Beschützerinstinkt und wirken oft defensiv. Shoko etwa sucht die Schuld bei sich. Sie entschuldigt sich gar bei ihren Peinigern.

Auch andere Mangas erzählen von Gehörlosigkeit

Yoshitoki Oima ruht sich aber nicht auf dieser stereotypen Darstellung aus. Sie zeigt im Verlauf der ernsten Geschichte die psychischen Auswirkungen des Mobbings auf das Leben sämtlicher Hauptfiguren ebenso schonungslos wie die egoistische Grausamkeit der Kinder und die unangemessenen Reaktionen der Erwachsenen.

Die Titelbilder der beiden Sammelbände von „A Silent Voice“.
Die Titelbilder der beiden Sammelbände von „A Silent Voice“.

© Egmont Manga

Shokos und Shoyas Entwicklung und die ihrer Mitmenschen wird realistisch und detailliert nachvollzogen, die Erzählperspektive ab und an gewechselt. Die Geschichte will so das Verständnis für Gehörlose fördern und gleichzeitig für die Folgen von Mobbing sensibilisieren.

Hierzulande erscheinen Mangas oft zuerst im Taschenbuchformat. Erst bei entsprechenden Absatzzahlen werden Sondereditionen oder Schuber und andere Gimmicks nachgeschoben.

Auch bei „A Silent Voice“ waren neben der zeitlosen Geschichte die Verkäufe ausschlaggebend für die Neuauflage. Jedes der zwei telefonbuchdicken Bücher beinhaltet die Hälfte des Materials der sieben ursprünglichen Bände und bisher unveröffentlichte Farbseiten.

Mehr als ein Kilo wiegt ein Exemplar. In Teil 1 sind außerdem Figurenbeschreibungen zu finden, die es bislang nur in Japan in einem Fanbook zur Serie gab. Im abschließenden zweiten Band ist die originale Kurzgeschichte enthalten.

Die zart gezeichnete und gut erzählte Serie berührt mit der Gehörlosigkeit ein außergewöhnliches Thema. In Deutschland sind nur wenige weitere Manga-Serien mit diesem Motiv erschienen.

Die meisten gehörlosen Figuren findet man hierzulande im romantischen Kontext wie zum Beispiel in „Ein Zeichen der Zuneigung“, in der sich eine gehörlose Studentin in ihren Kommilitonen verliebt oder in „Spüre meinen Herzschlag“, in dem eine brave Tochter für einen gehörlosen jungen Mann gegen ihr Eltern aufbegehrt.

In „Mit Dir im Wunderland“ verbindet Kana Watanabe die Behinderung mit einer Fantasy-Geschichte. Aber auch im Boys-Love-Bereich ist mit „I hear the Sunspot“ eine Liebesgeschichte zwischen zwei Studenten am Markt. „A Silent Voice“ ist jedoch mit Abstand der dramatischste Genrevertreter.

International als Anime erfolgreich

2016 wurde „A Silent Voice“ von Kyoto Animation als Anime adaptiert. Der Film, der die Handlung der sieben Bände gekonnt auf ein abendfüllendes Maß herunterbricht, gewann mehrere japanische Filmpreise und erzielte weltweit Einnahmen von mehr als 31 Millionen US-Dollar. Und das, obwohl im selben Jahr einer der erfolgreichsten japanischen Animes „Your Name. – Gestern, heute und für immer“ in die Kinos kam und für Konkurrenz sorgte.

Das Cover der Anime-Version von „A Silent Voice“.
Das Cover der Anime-Version von „A Silent Voice“.

© Kazé

Auf Deutsch erschien die Anime-Adaption zu „A Silent Voice“ 2018 bei Kazé und hat mit 40.000 verkauften Editionen ebenfalls ein wirklich gutes Ergebnis eingefahren.

Yoshitoki Oima zeichnet derzeit an ihrer aktuellen, bislang 13 Bände umfassenden Reihe „To Your Eternity“. Diese wird ebenfalls bei Egmont Manga in deutscher Sprache veröffentlicht und ein gleichnamiger Anime von Studio Brain’s Base läuft derzeit im japanischen Fernsehen. Der Simulcast, die Simultanübertragung der Fernsehserie, erfolgt hierzulande über Anime on Demand. Auf dem Streaming-Portal kann auch „A Silent Voice“ abgerufen werden.

Sabine Scholz

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