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In der Seehundstation: Eine Szene aus „Whispering Blue“.

© Egmont Manga

Manga „Whispering Blue“: „Humor nährt sich aus der inneren Dunkelheit“

Ein Gespräch mit dem Berliner Manga-Duo Chasm über Robben, queere Herzensangelegenheiten und das Arbeitspensum deutscher Künstler.

Die Berliner Comickünstler Marika Herzog und Michel Decomain haben unter ihrem Künstlernamen Chasm im vergangenen Jahr ihre Manga-Eigenproduktion „Whispering Blue“ (Egmont Manga, 195 Seiten, 7 Euro) veröffentlicht. Im Tagesspiegel-Interview sprechen sie über das (Über-)Leben als deutsche Comickünstler und ihr Verhältnis zum Humor.

Könnt ihr vielleicht beide kurz euren Werdegang schildern. Welchen Weg habt ihr bis zur Veröffentlichung von „Whispering Blue“ beschritten und wie entstand Chasm?
Marika Herzog: Ich habe recht spät angefangen mit dem Zeichnen, da ich vorher stark in Sportvereinen aktiv war. Nach ein paar kleineren Webcomics habe ich beim ComicWerk meine Serie „Grimoire“ untergebracht, welche später beim Comic Culture Verlag auch gedruckt erschienen ist. Dazwischen habe ich für Carlsen den Chibi-Manga „Legacy of the Ocean“ und für weitere kleinere Verlage kürzere Storys gezeichnet. Vor „Whispering Blue“ sind die drei „Camio“-Bände bei Egmont erschienen sowie mein aktueller Webcomic „Capacitas“. Zwischenzeitlich habe ich einige Comic-Workshops an der Berliner Volkshochschule mit Guido Neukamm abgehalten und Auftragsarbeiten für verschiedene Firmen wie Tombow, einen japanischen Hersteller für Schreib- und Zeichenmaterialien, erledigt.
Michel Decomain: Ich habe Mitte der 2000er im Studium „MAD“-Zeichner und Comicwerk-Mitbegründer Daniel Gramsch kennengelernt. Marika war damals auch bei Comicwerk und hat ihre Web-Serie „Grimoire“ für den Comic Culture Verlag aufgearbeitet, den Alex Brewka von Modern Graphics gerade gegründet hatte. Ich habe Marika dann bei den Dialogen für Band 2 ausgeholfen und sie ab Band 3 redaktionell betreut, wie danach auch ein paar andere Nachwuchsprojekte bei Comic Culture. Aus der Zusammenarbeit mit Marika ist dann später Chasm entstanden.

Ihr seid beide schon längere Zeit im „Comic- und Manga-Geschäft“. Was hat sich aus eurer Sicht in den vergangenen Jahren im Hinblick auf Manga-Eigenproduktionen verändert?
Michel Decomain: Ich glaube, der große Doujinshi-Boom ist ein bisschen abgeflacht. Der Nachwuchs konzentriert sich stärker auf Merchandise-Artikel, die immer einfacher zu produzieren sind und gemessen am Zeitaufwand einfach einträglicher sind. Die tatsächlichen Manga-Schaffenden andererseits sind nicht mehr so abhängig von Verlagen, die stärker als Zweitverwerter von erfolgreichen Web-Mangas auftreten. Gerade im Bereich der Indie-Verlage tut sich da derzeit viel, besonders europaweit. International wächst die Nachfrage an nicht-japanischen Manga, und der Erfolg von europäischen Ausnahme-Talenten wie Tony Valente („Radiant“) zeigt, dass du nicht mehr nach Japan gehen musst, wenn du von deinem eigenen Anime träumst.

Kommen wir nun auf euer jüngstes Werk zu sprechen: Wie seid ihr auf die Idee zu „Whispering Blue“ gekommen?
Marika Herzog: Ich war mit meiner Grundschulklasse mal für zwei Wochen in Sankt Peter-Ording und habe dort einen Robbenanhänger bekommen. Daher kommt wohl die Liebe zu Seehunden. Nach der Beendigung von „Camio“ habe ich schließlich ein „Testcover“ gezeichnet und es nach einer Weile erweitert mit einigen groben Story-Stichpunkten Michel gezeigt.

Wie entstehen eure Charaktere? Gibt es für einige auch reale Vorbilder?
Michel Decomain: Die visuelle Gestaltung der Figuren orientiert sich natürlich an populären Konventionen aus den japanischen Vorbildern. Gleichzeitig ist ihr Erfahrungshorizont aber stark heimisch geprägt und da kommen auch durchaus autobiografische Faktoren mit ins Spiel.

Warum sollte es diesmal ein Boys-Love-Titel sein?
Michel Decomain: Um ehrlich zu sein, war das Ziel schon, einen populären Titel zu schaffen, und Boys Love bietet sich dafür in Deutschland am besten an, besonders, wenn du mit dem beschränkten Umfang eines Einzelbands arbeiten willst. Jedenfalls muss man jetzt festhalten, dass das Erfolgskonzept Boys Love plus süße Tiere plus Einzelband aufgegangen ist. Darüber hinaus ist „Whispering Blue“ aber auch ein sehr persönliches Buch geworden, das viele Punkte behandelt, die uns echt am Herzen liegen. Idealerweise hast du am Ende ja ein Werk, das sein Publikum findet, aber diesem Publikum dann auch ein paar wichtige Gedanken vermitteln kann. Gerade Manga hat als Erzählform in dem Bereich eine Menge Potential.

Die „Camio“-Bände strotzen nur so vor Comedy. In „Whispering Blue“ wird es auch schon mal lustig. Wie entsteht diese Situationskomik und welche Tipps würdet ihr angehenden Comic-Künstlern geben, die ebenfalls witzig sein wollen?
Michel Decomain: Ich glaube, Humor nährt sich aus der eigenen inneren Dunkelheit. Subversiv kann nur sein, wer unzufrieden ist. Man muss sich vorstellen können, was die ungünstigste und überraschendste Wendung ist, die eine bestimmte Situation nehmen könnte. Dazu braucht man schon eine gewisse niederträchtige Ader, die man dadurch ins Positive wandeln kann, dass man sie zum Treibstoff für Humor macht. In der Figur Camio steckt jedenfalls viel mehr von mir, als ich öffentlich zugeben sollte. Davon abgesehen: Man braucht ein gutes Gespür für Timing und Dramaturgie, für das Aufbauen von Erwartungshaltungen und geschickt gesetzte Wendepunkte, die diese Erwartungen unterlaufen. Konflikte zwischen Figuren sind eine Goldgrube für Komik. Je mehr sich Figuren untereinander eins auswischen wollen, umso mehr Potenzial für Gags gibt es. Humor ist auch ein gutes Mittel im Kontrast mit eher dramatischen Szenen und kann beiden Aspekten mehr Wirkung verleihen. In der Hinsicht ist „Whispering Blue“ wohl eher näher an unserem Zombie-Manga „Dead Ends“ dran als an den „Camio“-Bänden, wo es eigentlich nur um möglichst viele Gags pro Seite ging. Und dann brauchst du für Manga natürlich noch jemanden mit gutem Gespür für die visuelle Umsetzung von Gags, die passenden Gesichtsausdrücke und grafischen Mittel, die unterstützend wirken können.

An realen Schauplätzen recherchiert: Eine weitere Szene aus „Whispering Blue“.
An realen Schauplätzen recherchiert: Eine weitere Szene aus „Whispering Blue“.

© Egmont Manga

Worüber würdet ihr nie Witze machen oder gibt es ein No-Go bei Comedy?
Michel Decomain: Humor muss immer ein bisschen wehtun, das Absurde im eigentlich Schrecklichen finden. Humor lebt von diesem Kontrast. Dabei muss er aber die Balance zwischen Albernheit und Gemeinheit wahren. Zu gemein und es schreckt ab. Zu brav und es zündet nicht. Die Balance ist natürlich sehr situationsabhängig und manche Gags können in bestimmten Situationen angemessen sein und in anderen wieder total unangebracht. Humor sollte aber niemals echten Schaden über unbeteiligte Menschen bringen. Wer so etwas in die Präsentation seiner Witze einkalkuliert oder wem das schlicht egal ist, der ist nicht nur verantwortungslos, sondern auch kein guter Komiker, weil er von Balance nichts versteht.

Ihr seid bei der Recherche zu „Whispering Blue“ unter anderem in einer Seehundstation gewesen. Wie kam es dazu und wie unterschied sich die Realität von euren Vorstellungen?
Marika Herzog: Es war uns wichtig, das reale Verhalten der Seehunde und auch die Arbeit in einer Aufzuchtstation so gut wie möglich wiederzugeben. Normale Online-Recherchen waren dafür nicht ausreichend und wir hatten vor Ort die Möglichkeit, alles live zu sehen und eigene Eindrücke zu sammeln, was für den Band sehr wichtig war und half, einen besseren Bezug zu den Seehunden und den Arbeitsweisen der Helfer zu bekommen. Von den verschiedenen Seehundstationen hatte uns Norddeich am ehesten zugesagt. Und wir haben uns verliebt. Wir bekamen dort auch die Möglichkeit, hinter die Kulissen zu schauen. An sich unterschieden sich unsere Vorstellungen letztlich gar nicht so sehr von der Realität. Was uns aber überraschte und uns noch mehr Ansporn gab: Die Seehundstation finanziert sich ausschließlich über Spenden und den Verkauf von Eintrittskarten und den Artikeln aus ihrem Shop. Sie bekommen kaum staatliche Unterstützung, obwohl es meist durch die Menschen und deren Fehlverhalten verschuldet wird, dass Robben verletzt werden oder ihre Eltern verlieren.

Wie läuft eure Zusammenarbeit ab?
Marika Herzog: Zu Anfang planen wir zusammen grob die Story und unterteilen sie in Kapitel. Michel schreibt dann Skripte wie ein Drehbuch, woraus ich die geplanten Seiten in ein Storyboard umwandle. Das Storyboard wird dann mit Michel besprochen, ehe es zum Redakteur weitergegeben wird. Sobald das Go kommt, werden die Seiten fertig ausgearbeitet. Am Ende schaut Michel noch einmal rüber und passt gegebenenfalls die Dialoge noch etwas besser an die Zeichnungen an.

Von welchen Medien lasst ihr euch beeinflussen? Gibt es etwas, das speziell eure Arbeit an „Whispering Blue“ beeinflusst hat?
Michel Decomain: Alles, was einem an Filmen, Comics, Games oder auch Online-Artikeln und Tweets über den Weg läuft, kann einen Einfluss haben und wenn es nur ein winziger Aspekt hier oder da ist. Letztens habe ich Daisuke Igarashis „Children of the Sea“ mal wieder gelesen und gemerkt, dass der Mikrokosmos Meeresaquarium wohl einen Einfluss auf „Whispering Blue“ gehabt haben muss, auch wenn beide Titel unterschiedlicher nicht sein könnten.
Marika Herzog: Filme, Musik, Social Media und verschiedenste Dokumentationen haben vieles beeinflusst. Der Zeichentrickfilm „Die Melodie des Meeres“ hat mich unter anderem stark beeinflusst.

Im Anhang des Mangas finden sich nicht nur Infos zu Seehunden, sondern auch Informationen zu Homophobie und Co. War euch das ein spezielles Anliegen?
Michel Decomain: Wie oben gesagt, gibt es durchaus autobiografische Aspekte in „Whispering Blue“. Man findet mittlerweile auch unglaublich viele ergreifende Erfahrungsberichte und Artikel online, die viel Inspiration geben. Auch war es uns wichtig, mal auf Punkte einzugehen, die im Boys-Love-Bereich selten und oft nur sehr oberflächlich thematisiert werden. Es hat uns sehr gefreut, dass es auf Signierstunden auch schon sehr viel positives Feedback von queeren Pärchen gab.

Marika, Du veröffentlichst derzeit auch online einen Webcomic. Wie unterscheidet sich die Arbeit von einer Buchveröffentlichung. Unterstützt Dich Michel hier auch?
Marika Herzog: Beim Webcomic läuft es etwas interaktiver ab, da ich durch Kommentare von Lesern auch auf neue Ideen gebracht werde. Das Ende der Story steht dennoch seit Beginn fest. (lacht) „Capacitas“ ist zeichnerisch etwas einfacher gehalten, da ich nur nebenbei daran arbeiten kann. Aber es motiviert sehr, wenn man bei jedem Upload Rückmeldungen und Theorien von den Lesern in den Kommentaren bekommt. Dadurch kann man direkt mit den Lesern über aktuelle Situationen und das Verhalten der Charaktere diskutieren und sich austauschen, was viel Fan-Nähe bringt. Ich kann aber auch jederzeit an Michel herantreten, wenn ich nicht weiterkomme oder Hilfe brauche. Aktuell ist geplant, dass er ab Band 2 wieder die Texte anpassen soll und auch das Lettern für mich übernimmt, wenn er Zeit dafür findet, da ich das alles organisatorisch nicht mehr schaffe.

Ihr seid häufig auf Messen und Conventions anzutreffen. Wie wichtig ist euch der Kontakt zu den Fans und welche Rolle spielt Social Media hier?
Marika Herzog: Der Kontakt zu den Fans ist sehr wichtig und auch die Gespräche, welche ich mit ihren führe. Ohne die Fans würde man gar nicht so weit kommen und daher ist es wichtig, mit ihnen so gut es geht in Kontakt zu bleiben. Dadurch schöpft man auch Energie für neue und laufende Projekte. Leider bin ich aufgrund meiner ganzen Jobs nicht so viel online vertreten, wie ich es gerne wäre. Aber gerade durch Social Media erreicht man auch ein Publikum, das nicht zu Veranstaltungen gehen kann oder auch internationaler ist.

Thema Homophobie: Eine Szene aus „Whispering Blue“.
Thema Homophobie: Eine Szene aus „Whispering Blue“.

© Egmont Manga

Stichwort Social Media: Der Dämonenlord Camio hat unter anderem einen eigenen Twitter-Kanal. Die Robbe Blue darf sich in kurzen Comic-Strips austoben. Habt ihr zu viel Zeit oder gehört das zur Leserbindung?
Michel Decomain: Definitiv Letzteres. Manga-Eigenproduktionen bringen gegenüber Lizenz-Mangas den Vorteil der Interaktionsmöglichkeit mit dem Zielpublikum mit sich. Gerade in der kreationsfreudigen Manga-Community kommt dann auch unglaublich viel zurück, was dann wiederum das Werk weiter nach außen promotet. Einzelbände kommen und gehen so schnell. Wenn man den Band durch solche Maßnahmen längerfristig in der Wahrnehmung der Fans verankern kann, ist das als Werbeeffekt eigentlich Gold wert für einen Verlag.

Von der Buchveröffentlichung allein können nur wenige deutsche Künstler leben. Wie stellt ihr eure Lebensgrundlage sicher und wie lässt sich das mit eurer künstlerischen Arbeit vereinbaren?
Michel Decomain: Wir arbeiten beide 30 Stunden die Woche in Büro-Jobs und machen alles andere in der Freizeit. Anders kann man die Miete nicht zahlen.
Marika Herzog: Ich arbeite wie Michel in einem 30-Stunden-Job. Als reiner Verlagszeichner ohne Aufträge außerhalb des Verlagsprojektes wie Workshops oder Produktdesign für Verpackungen etc. wird es schwer zu überleben. Ich habe oft erlebt, dass Künstler nicht genug Aufträge reinbekommen haben oder nicht rechtzeitig gezahlt wurde und sie so in finanzielle Schwierigkeiten geraten sind. Daher ist ein fester Job nebenbei wichtig. Das bedeutet aber auch: kaum bis keine Freizeit. Selbst auf dem Weg zur oder von der Arbeit werden in den öffentlichen Verkehrsmitteln Seiten gezeichnet, koloriert oder Storyboards bearbeitet und daheim wird weitergemacht. Geburtstagsfeiern, Familie und Freunde besuchen, oder einfach mal so rausgehen im Sommer wird zur Seltenheit, wenn man am Tag oft mal 18 Stunden oder mehr arbeitet.

Das Cover von „Whispering Blue“.
Das Cover von „Whispering Blue“.

© Egmont Manga

Sabine Scholz

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