zum Hauptinhalt
Eine Szene aus „Mein Freund Rilke“ von Melanie Garanin.

© Carlsen

Melanie Garanins Graphic Novel „Mein Freund Rilke“: Gestrandet in der Gegenwart

Die Comiczeichnerin Melanie Garanin versetzt Rainer Maria Rilke anlässlich seines 150. Geburtstags in das Jahr 2025. Das vermittelt einen neuen, beeindruckenden Zugang zu dem Dichter und seinem Werk.

Von Birte Förster

Stand:

Ein bisschen komisch ist es schon. Da taucht im Jahr 2025 plötzlich so ein Typ auf und stellt sich mit absoluter Selbstverständlichkeit als der berühmte Dichter Rainer Maria Rilke vor. Na klar. Wer ein bisschen gesunden Menschenverstand hat, dürfte wohl vermuten, dass es sich dabei um einen „Rollenspielfreak“, einen „Rilke-Oberultra“ oder einfach einen „Psycho“ handeln dürfte.

So jedenfalls beschreibt Ellen diesen mysteriösen Unbekannten zunächst, der mit seinen antiquierten Worten nicht so ganz in die heutige Zeit passen will. Die Journalistin, die sich auf Rilkes Spuren begibt und dem Dichter dabei unerwartet nahekommt, ist die Protagonistin in Melanie Garanins Graphic Novel „Mein Freund Rilke“ (Carlsen, 192 Seiten, 26 Euro).

Ein mutiges Experiment

Die Berliner Illustratorin und Comiczeichnerin hat einen ganz besonderen Weg gewählt, um vom Leben und Werk des Dichters zu erzählen, der am 4. Dezember 150 Jahre alt geworden wäre. Ihr Annäherung an den Dichter ist ein mutiges Experiment: Sie versetzt Rilke in die Jetztzeit.  

Ungewöhnliche Begegnung in Worpswede: Eine Szene aus „Mein Freund Rilke“.

© Carlsen

Um für einen Artikel über Rilke zu recherchieren, fährt Ellen eher mäßig motiviert in die frühere Künstler-Kolonie Worpswede, in der der Dichter zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige Zeit verbrachte. Sie wandelt durch den malerischen Ort, auf einer Veranstaltung Rilke zu Ehren lauscht sie etwas gelangweilt den Festreden. „Irgendwas mit Vokalen, Moor und Birken“, fasst sie eine davon zusammen.

Als sie den Veranstaltungsort frühzeitig wieder verlassen will, stößt sie plötzlich mit einem charmanten Herrn zusammen, eine heitere Unterhaltung beginnt. Dass es sich dabei um ihn persönlich, den Dichter Rainer Maria Rilke handelt, ist Ellen zu dem Zeitpunkt noch nicht bewusst.

Dennoch, irgendwie hat Ellen Blut geleckt und fährt für weitere Recherchen nach Paris. Und siehe da: Erneut begegnet sie dort ihrer Worpsweder Bekanntschaft und erkennt in ihm, wenn auch etwas ungläubig, den echten Rilke. Zwischen beiden entwickelt sich eine leidenschaftliche Liebesaffäre.

Wirklichkeit und Fiktion treffen aufeinander

Parallel dazu geht die Journalistin dem Leben und Werk des Dichters auf den Grund und lässt denselben an diesem Prozess teilhaben. Aus ihrer Perspektive lernen so auch die Leser:innen Rilke und sein literarisches Schaffen kennen. Ein kluges Aufeinandertreffen von Wirklichkeit und Fiktion. 

Eine weitere Szene aus dem besprochenen Buch.

© Carlsen

Mit viel Geschick verknüpft Garanin auf diese Weise zwei unterschiedliche Zeit- und Erzählebenen, eine davon in der Vergangenheit, die andere in der Gegenwart. Obwohl mehr als 100 Jahre dazwischen liegen, fügen sie sich so geschmeidig ineinander, als gehörten sie untrennbar zusammen.

Besonders ist, wie Garanin Rilke als Menschen und Lyriker, gestrandet in der heutigen Zeit, humorvoll in Szene setzt. Wenn die Gedichte wie ein Schwall aus ihm herausbrechen, ist Ellen zuweilen irritiert.

Romantisch und witzig

Als die beiden durch Paris schlendern, trägt er eine Passage aus den „Neuen Gedichten“ von 1907 vor: „Sieh, er geht und unterbricht die Stadt, die nicht ist auf seiner dunklen Stelle, wie ein dunkler Sprung durch eine helle Tasse geht.“ Ellen antwortet darauf ein bisschen verschämt: „Die Stadt will die Parkgebühren erhöhen.“

Später reagiert sie auf seine altertümliche Sprache bereits gelassener, als er auf ihre selbstkritischen Worte folgendes erwidert: „Drum sorge nicht, ob du etwa verlörst. / Das Herz reicht weiter als die letzte Ferne. Sie sagt dazu lediglich: „Oh Rilke. Bei dir stört es mich übrigens gar nicht, dass wir aneinander vorbeireden.“

Die beiden Hauptfiguren erkunden zusammen Paris.

© Carlsen

Romantisch und voller Witz ist auch die Darstellung der Liebeszene. Eine Collage aus verschiedenen Gedichten verdeckt den Liebesakt und lässt nur erahnen, wie es dahinter zur Sache geht.

Garanin verzichtet in ihrer Graphic Novel auf Panelrahmen, sodass Szenen aus unterschiedlichen Zeiten nebeneinander bestehen und die Bilder kunstvoll ineinander übergehen. Etwa, wenn Ellen mit ihrem Laptop im Bett sitzt, um ihr Wissen zu erweitern, und der Rilke von damals neben der Bettkante hervorlugt.

Auf Rilkes Spuren in Paris

Die kurzen biografischen Passagen erinnern als Bilder in Sepia an historische Fotografien und erzählen aus dem Leben des Dichters: Sein Aufwachsen in Prag, die Studienzeit in München, seine Liebesbeziehung mit der Dichterin Lou Andreas-Salomé sowie sein Umzug in die Künstler-Kolonie Worpswede, wo er die Bildhauerin Clara Westhoff kennenlernt und heiratet.

Melanie Garanin: „Mein Freund Rilke“, Carlsen, 192 Seiten, 26 Euro,

© Carlsen

In Aquarellfarben, mal zart, mal kräftig, sind wiederum Ellen und der Rilke von heute zu sehen. Wunderschöne Naturszenerien sowie Stadtansichten aus Paris schaffen eine besondere Stimmung. Zusammen erkunden sie in Paris die Orte, die das Leben des Dichters geprägt haben, wie etwa das Musée Rodin. Rilke verehrte den französischen Bildhauer und arbeitete eine Zeit lang für ihn.

In ihren Gesprächen tauschen sie sich über Lebensthemen des Dichters aus, der immer auf der Suche war, oft umzog und etliche Frauen begehrte. So kommt Ellen dem Dichter in vielerlei Hinsicht als Mensch nahe und durchdringt auch immer intensiver sein künstlerischen Werk, nicht nur sachlich-analytisch, sondern auch emotional. Über seine Duineser Elegien sagt sie einmal: „Wenn ich jetzt die Elegien lese, versuche ich gar nicht, sie zu verstehen, und fühle mich trotzdem, als würde ich es.“

Mit ihrem Comic schafft Melanie Garanin einen neuen, beeindruckenden Zugang zu Rilke und seinem Werk. Diese Graphic Novel beweist grandios: Rilke gehört nicht der Vergangenheit an. Sondern vermag auch in der Gegenwart die Menschen mit seinen Gedichten zu berühren.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })