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Fragmentarisch: Eine Szene aus dem besprochenen Band.

© Kan Takahama, Carlsen

„Stille Wasser“ von Kan Takahama: Planschen im Gefühls-Ozean

Beziehungsfragmente auf Japanisch: Im Kurzgeschichtenband „Stille Wasser“ präsentiert Kan Takahama flüchtige Beobachtungen, die viele Fragen offen lassen.

Distanz ist wohl das Letzte, was man in einem Comic, der sich laut Backcovertext dem „Lebens- und Liebesgefühl einer modernen Generation“ widmet, erwarten würde. Allerdings gewährt die 1977 geborene japanischen Künstlerin Kan Takahama im Kurzgeschichtenband „Stille Wasser“ mit ihrem von metafiktionalen Momenten durchsetzten, fast emotionslosen Erzählstil unvoreingenommene Einblicke in außergewöhnliche Beziehungen.

Allein das klar strukturierte Layout auf schwarzem Grund, in das die extravaganten, skizzenhaften Zeichnungen eingebettet sind, vermittelt Kühle und Nüchternheit sowie mit der Zeit eine schwermütige Düsternis. Grobe Schraffuren und flächige Schatten prägen die knappen Geschichten. Die realistischen Hintergründe werden meist nur mit wenigen Strichen angedeutet. Erotische Begegnungen hingegen unzensiert und erfreulich unverkrampft dargestellt, ohne anstößig zu wirken. Die Schlichtheit der westlich inspirierten, digital erstellten Zeichnungen und Illustrationen ist einprägsam.

Schmaler Grat zwischen Mut und Laster

Die acht kurzen Geschichten könnten unterschiedlicher nicht sein. In der ersten Erzählung lässt Kan Takahama, die diesen Mai auf dem „Internationalen Comic-Salon Erlangen“ zu Gast war, einen Mangaka auf Inspirationssuche zu Wort kommen, der auf der Landstraße eine Minderjährige aufliest. Die titelgebende Episode „Stille Wasser“ hingegen zeigt eine junge Frau, die einmal im Jahr ihrem tristen Leben in einer Pension in einem Dorf entflieht, wenn ein alter Freund zu Besuch kommt. Das Ehepaar, das sich vor der Scheidung noch ein letztes Mal dem verlorenen Glück hingibt, die ehemalige Affäre eines verheirateten Mannes, die dem inzwischen dementen Witwer eine letzte Frage stellen will und Eltern, die ihren erwachsenen Kindern plötzlich eine einvernehmliche Trennung präsentieren – sie alle haben eines gemeinsam. Sie verlassen den Pfad der Moral und begeben sich auf einen schmalen Grat zwischen Mut und Laster.

Spielraum für eigene Interpretationen: Eine Szene aus "Stille Wasser".
Spielraum für eigene Interpretationen: Eine Szene aus "Stille Wasser".

© Kan Takahama, Carlsen

Der Leser als abgerückter Beobachter muss sich selbst eine Meinung zu den intimen Geschehnissen bilden, die Kan Takahama ohne erhobenen Zeigefinger präsentiert. Die Künstlerin enthält dem Publikum die Gefühle der Figuren dabei zwar nicht vor, macht diese aber im Gegensatz zu emotional stärker in ihren Bann ziehenden japanischen Zeichnerkollegen wie Inio Asano oder Jiro Taniguchi nicht einfach greifbar und schafft so Spielraum für eigene Interpretationen.

Gleichzeitig können Kan Takahamas fragmentarische Kurzgeschichten oberflächlich wirken, betrachtet man nur die undefiniert bleibenden Charaktere und die bruchstückhaften Auszüge aus ihrem unmoralisch anmutenden Liebesleben. Gerade dieser Zwiespalt ist spannend. Was ist in der Vergangenheit der Protagonisten passiert, wie wird die Zukunft aussehen? Ein jeder wird sich anhand seiner eigenen Erfahrungen andere Szenarien ausmalen und zu anderen Urteilen kommen.

Unzensiert und unverkrampft: Das Cover des besprochenen Bandes.
Unzensiert und unverkrampft: Das Cover des besprochenen Bandes.

© Kan Takahama, Carlsen

„Stille Wasser“, das bei Carlsen in japanischer Leserichtung als Klappenbroschur im Format 14,5 x 21 cm erscheint, ist ein Comic, über den in großer Runde diskutiert werden kann und sollte, um die wahre Tiefe auszuloten.

Kan Takahama: Stille Wasser, Carlsen Manga, Einzelband, 240 Seiten, 16,90 Euro

Sabine Scholz

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