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Daniel Wissers Roman „O 1 2“: Das Glück und das Pech eines Wiederauferstandenen
Der österreichische Schriftsteller erzählt in seinem neuen Roman von einem Computerspezialisten, der von den Toten aufersteht und die Welt von heute mit den Maßstäben von vor dreißig Jahren beurteilt.
Stand:
Dieser Mann dürfte nach den Gesetzen der medizinischen Wissenschaft nicht mehr leben. Der am 15. Februar 1952 geborene Erik Montelius litt an einem für sein Geschlecht eher seltenen Brustkrebs und starb mit nicht einmal 40 Jahren. Oder eben doch nicht.
Daniel Wisser erzählt in seinem Roman „0 1 2“ von einem Computerspezialisten, der nach einer angeblich finalen Operation dreißig Jahre lang kryokonserviert wurde. Der gefrostete Leichnam, so hatte es Montelius verfügt, sollte zu gegebener Zeit der Wissenschaft dienen. Doch dann wird sein Körper mitten in der Corona-Pandemie aufgetaut, weil sein ehemaliger Mitstreiter die Kosten für die Konservierung im flüssigen Stickstoff nicht mehr tragen möchte. Und zur Überraschung aller: Montelius lebt! Er ist von den Toten auferstanden.
Nur langsam begreift der vom langen Kryoschlaf sichtlich geschwächte Patient, dass seine Wiedergeburt gar nicht geplant war, dass er vielmehr heimtückisch ermordet werden sollte. Immerhin ist er schon bald eine Mediensensation und nutzt das gewinnbringend. Er schreibt ein Buch über die wahren Hintergründe seines Schicksals. Bei der vorliegenden Ich-Erzählung handelt es sich um genau dieses Werk.
Gekonnte Persiflage
Montelius ist ein so komischer wie nachdenklicher Autor. Denn für ihn gelten noch die politischen und moralischen Maßstäbe der 1970er und 80er Jahre. Zeitreisen dieser Art hat es in der Film- und Literaturgeschichte häufig gegeben, vor allem im Sci-Fi-Bereich. Doch bei „0 1 2“ handelt es sich – bis auf die Kryo-Story – um eine weitgehend realistische Romanhandlung, die in jüngster Vergangenheit angesiedelt ist.
Der 1971 in Klagenfurt geborene Wisser persifliert die ethischen Widersprüche zu schlimmsten Covid-Zeiten, ohne selbst ideologisch zu werden. Für einen behandelnden Mediziner scheint der hippokratische Eid jedenfalls nicht mehr generell zu gelten: „Wir kommen auf der Intensiv kaum zurecht. Da kämpfen Menschen um ihr Leben. Um ihr erstes Leben. Und er, der Zombie, braucht ein zweites Leben? Nein. Das ist eine Existenz, die es eigentlich nicht geben sollte.“
Nicht nur dem Ärzteteam ist dieser Patient nicht geheuer. Alte Freunde befürchten, Erik könne sich im Laufe seiner Kryokonservierung politisch radikalisiert haben. Dass die Grünen in der Regierung sind, mag der umweltbewegte Erfinder von „nonbinären“ Rechnern, der Montelius einst war, kaum glauben. Und die eigenen Spleens machen ihn zu einem Fremden selbst in vertrauter Umgebung: Er ist Fan der Beatles und neigt dazu, zig Liter Bier an einem Tag zu trinken, um dann in Gläser zu urinieren, die er ins Regal stellt. Wie er es als Computer-Nerd vor dreißig Jahren schon getan hat.
„Kühlt ihr auch die Sahara ab?“
Der aus der Zeit gefallene Mann stellt allerdings die richtigen Fragen: Warum werden mittlerweile die Restaurant-Terrassen beheizt? Sonst könnten die Gäste nicht draußen sitzen, heißt es zur Erklärung. Montelius schlägt vor, bei niedrigen Temperaturen vielleicht doch besser drinnen zu speisen. Da dürfe aber nicht geraucht werden, so der Hinweis. Das überzeugt ihn nur mäßig: „Ach ja, stimmt. Versucht ihr auch die Sahara abzukühlen, damit man dort im Winter Zucchini pflanzen kann?“
Die Späße vergehen Montelius schon bald, als er in die Mühlen der Bürokratie gerät. Als ehemals Verstorbener hat er keine Papiere. So wird er wie ein Flüchtling im eigenen Land behandelt. Inzwischen hält man ihn für einen Hochstapler, der mit einer erfundenen Biografie ordentlich Kasse machen wollte. Der eigentlich tote Mann wird selbst im privaten Umfeld zur Projektionsfläche eigenen Versagens. Der Romantitel „0 1 2“ bezieht sich dabei einerseits auf die ternäre Struktur der Montelius-Computer, lässt sich aber andererseits auf die politische Gemengelage insgesamt anwenden.
Und er, der Zombie, braucht ein zweites Leben? Nein. Das ist eine Existenz, die es eigentlich nicht geben sollte.“
Ein Arzt in Wissers Roman
Wissers Roman erzählt von einer binär gepolten Gesellschaft, die drängende Probleme nicht bewältigt, weil sie einen anderen, einen dritten Lösungsweg weder erkennt noch einzuschlagen für möglich hält. Ganz anders der Protagonist der Geschichte: Kaum ist er wieder unter den Lebenden, arbeitet er die Lügengeschichten des kriegstraumatisierten Vaters auf, um selbst jenseits der elterlichen Verstrickungen ein ehrliches Familienmodell leben zu können.
Identitätssuche, Gesellschaftssatire
Dieser Erzählstrang überrascht dann auch mit einer ernsten Tonalität, die insgesamt gut zur Entwicklung der Figur passt: Erik erkennt, dass sich Freiheit nur im verantwortungsvollen Miteinander realisieren lässt. Sein zweites Leben will er nicht länger durch Hassgefühle aufs Spiel setzen. So wird er darauf verzichten, sich am ehemaligen Kompagnon zu rächen, der nicht nur die gemeinsamen Patente verhökert, sondern auch Eriks Frau geheiratet hat.
Wissers Roman ist vieles zugleich: eine Identitätssuche und Gesellschaftssatire, eine Familiengeschichte mit Elementen des Kriminal- und Liebesromans, und zu guter Letzt auch eine Parodie auf die Usancen der modernen Medienwelt. Der Prosa könnte man vielleicht vorwerfen, dass sie sprachlich etwas konventionell ist. Doch ist das der Figurenrede geschuldet und dementsprechend angemessen. Daniel Wisser gehört jedenfalls zu den wenigen zeitgenössischen Autoren deutscher Sprache, die über Seiten hinweg Pointen liefern, ohne ins Seichte abzudriften.
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