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Das Buch „Die Erfindung des Rades. Als die Weltgeschichte ins Rollen kam“ : Große Mobilisierung
Von der Töpferscheibe zum Streitwagen: In seiner Kulturgeschichte des Rads beschreibt Harald Haarmann die Stationen einer wahrhaft umwälzenden Erfindung
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Dass das die Menschheit durch das Rad entscheidend vorangekommen ist, gilt als ausgemacht, in der Frage, wer es erfunden hat, besteht noch Klärungsbedarf. Waren’s nun die Sumerer, wie lange Zeit in den Lehrbüchern zu lesen war? Oder doch eher die Alteuropäer mit ihrem sprichwörtlichen Unternehmergeist? In jüngster Zeit führt gar eine Spur ins Alpenvorland, wo am Ufer des heutigen Zürichsees Wagenreste aus der Jungssteinzeit gefunden wurden. Es könnten freilich auch Steppennomaden in Kooperation mit bäuerlichen Volksstämmen gewesen sein, wie Harald Haarmann in seinem jüngsten Buch nahelegt.
Haarmann, Autor von mehr als einem Dutzend Publikationen zu früh- und sprachgeschichtlichen Themen, verortet die Geburtsstunde des Rads im eurasischen Flachland. Hier, beidseits der Donau, seien optimale Bedingungen vorgefunden worden: ein reger Austausch entlang traditioneller Handelsrouten, bereits vorhandenes Knowhow in Form der Töpferscheibe sowie ein Boden, der die Gefährte nicht einsinken ließ.
Ob diese Variante sich durchsetzen wird, bleibt ungewiss, angesichts der dürftigen Quellenlage hat der Streit ums Patent ohnehin etwas Absurdes. Sicher ist bloß, dass das Rad die Welt verändert hat wie sonst nur die Schrift, die Metallverarbeitung oder die Domestizierung des Feuers.
Eine Revolution in Handel und Krieg
Routiniert geht Haarmann die Stationen einer zunehmenden Mobilisierung durch: die Ursprünge in der Tonverarbeitung, das Zimmern primitiver Karren, die Verfeinerung der Technik durch Speichenräder, die den Transport von Waren über weite Strecken ermöglichten. Verbesserte Technik wiederum brachte ein Straßennetz hervor, das bald die gesamte bekannte Welt miteinander verband, parallel zur Ausweitung des Handels aber auch die Kriegsführung revolutionierte.
Als Machthaber etablierte sich fortan, wer seine Gegner vom erhöhten Streitwagen aus in den Staub zwang, in Brand setzte oder mit rollenden Böcken in Grund und Boden rammte. Neu ist das alles nicht, Haarmanns gut informierte Kulturgeschichte eignet sich vor allem als Überblickswerk, das den Forschungsstand zusammenfasst und hier und da einen eigenen Akzent setzt.
Überwiegend originell lesen sich die Kapitel zu den zahlreichen rund ums Rad entstandenen Mythologien, wie sie sich bei Ägyptern, Griechen, aber auch in fernöstlichen Epen finden. Geschichten von Helden, großen Reisenden und Göttern, die in flammenden Streitwagen übers Firmanent preschen, dürften dazu beigetragen haben, die Kunde vom Rad von Lagerfeuer zu Lagerfeuer zu senden und schließlich im kulturellen Gedächtnis der gesamten bekannten Welt zu verankern.
Die Urszene instrumenteller Vernunft?
Gegen Mitte des vergangenen Jahrtausends jedenfalls hat das Prinzip, Lasten über Holzscheiben abzurollen, sich bis in entfernte Weltwinkel durchgesetzt – mit einer Ausnahme: Die Hochkulturen Mittel- und Südamerikas kannten zwar kreisförmige Gebilde, mit denen sie den Lauf des Jahres berechneten, zogen aber keinen praktischen Nutzen daraus. Erst die spanischen Eroberer brachten das Rad wortwörtlich über sie.
Hier, in der Konfrontation mit indigener Kosmologie und jenseits der müßigen Frage nach dem Whodunnit, hätte es nun wirklich interessant werden können. Steckt im Rollen vielleicht von Anfang an auch ein Überrollen? Markiert das Rad so etwas wie die Urszene instrumenteller Vernunft? Hat allseitige Mobilität die Welt nur verschieden verändert, während es darauf ankommt, in ein neues Verhältnis zu ihr zu treten?
Leider schweigt sich das Buch hierzu aus, es verbleibt durchweg im Horizont einer linearen Idee von Fortschritt. Das letzte Wort in der Sache indes ist noch nicht gesprochen: Mehr als wahrscheinlich, dass der Streit ums Rad unter postkolonialen Vorzeichen neu aufflackert.
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