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Der Schriftsteller Arno Schmidt, 1961.

© dpa

„Zettel’s Traum“ von Arno Schmidt: Das dickste Buch der deutschen Literatur – als Kurzversion

Mit neun Kilo und 1334 Seiten ist „Zettel’s Traum“ das absolute Schwergewicht der deutschen Literatur. 51 Jahre später erscheint das Kultwerk in handlicher Fassung. Die Kolumne Fundstücke.

Stand:

Peter von Becker schreibt an dieser Stelle regelmäßig über literarische Fundstücke. Nächste Woche: Gerrit Bartels über den Literaturbetrieb.

Es ist das größte oder zumindest schwerste Buch der deutschen Literatur. Vor 51 Jahren erschien „Zettel’s Traum“ als Opus Magnum von Arno Schmidt. Das Werk hatte in der Originalausgabe 1334 Seiten im Format DIN-A3, wog neun Kilo und war ein dreispaltiges Faksimile, das in der Seitenmitte Schmidts Schreibmaschinen-Typoskript samt handschriftlichen Einfügungen darbot. Die linke Randspalte war mit Zitaten von Edgar Allan Poe versehen, die rechte enthielt als Marginalien unzählige gelehrte, kuriose, aberwitzige Anmerkungen, Assoziationen, Glossen, Erweiterungen oder Streichungen des Verfassers.

Diese Erstausgabe im Stuttgarter Stahlberg Verlag hatte eine Auflage von 2000 Exemplaren, kostete damals 295 DM und war binnen zwei Monaten vergriffen. Es war nach jahrelangen Gerüchten und allerlei Medien-Raunen während der Entstehungszeit: ein Kultbuch. Für überdimensionierte Regale oder standfeste Coffeetables. Später gab es noch Raubdrucke, und im 21. Jahrhundert erste Editionen, die das in Schmidts ganz eigener Sprache, Phonetik und mit kryptischen Satzzeichen versehene Typoskript in ein mit Drucklettern gesetztes Buch verwandelten, dank den Vorarbeiten eigener Dechiffriersyndikate.

Aber weil nur wenige wohl „Zettels Traum“ wirklich ganz gelesen haben, gibt es inzwischen als Edition der Arno Schmidt Stiftung auch eine handliche Short Version: „Zettel's Traum“ (Ein Lesebuch, Hrsg. Bernd Rauschenbach, Suhrkamp, Berlin 2020, 254 S., 25 €). Interpretiert von Ulrich Matthes, ist „Zettel's Traum“ ab September zudem auch als Hörbuch zu haben (Aufbau Audio, Berlin, 1 mp3-CD, 19, 99 €).

Einst war Arno Schmidt (1914 - 1979) als genialer Sonderling ziemlich berühmt. Zumal er als „Eremit“ im Dörfchen Bargfeld in der Lüneburger Heide, wo sein Wohnhaus heute ein musealer Wallfahrtsort für Schmidtianer ist, durch seine Absenz vom allgemeinen Kulturbetrieb zugleich als Attraktion wirkte.

Schmidt hat nicht nur Karl May neu begründet

In der deutschsprachigen Literatur war Kafka zwar universell abgründiger, war Thomas Mann der genuinere Erzähler und Brecht der viel eingängigere Dichter. Aber wenn man Oskar Pastior, H. C. Artmann und Ernst Jandl als fantastische, komische, zehnmalkluge Sprachspieler aufeinandertürmt, gerät man in die Höhe des vieldeutigen Worterfinders und poetischen Phonetikers A. S.

Zudem hat Schmidt nicht nur Karl May neu ergründet (und als Homoerotiker entdeckt), er war auch ein intimer Kenner und Weiterdichter der angelsächsischen Vorbilder Laurence Sterne und James Joyce. Man kann also sagen: Finnegan erwacht und Zettel träumt.

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In mannigfacher Anspielung auf den in einen Esel verwandelten Handwerker und Schauspieler Niklaus Zettel (alias Nick Bottom) in Shakespeares „Sommernachtstraum“ geht es hier an einem Sommertag des Jahres 1968 um drei Freunde: Den in der Lüneburger Heide als Schmidts Alter Ego lebenden Erzähler Daniel Pagenstecher besucht das Übersetzerpaar Paul und Wilma Jakobi samt ihrer 16-jährigen Tochter Franziska. Während Pagenstechers Verliebtheit in Franziska ein dünner, zarter Nebenstrang bleibt, bilden den Hauptteil Gespräche, Exkurse, Literaturtheorien zu dem von den Jakobis zu übersetzenden Werken Edgar Allan Poes.

Impotenz, Pädophilie und Verdauungsprobleme

Dabei geht es verrückter, (ein)gebildeter und auch mal derber zu. Pagenstecher glaubt mittels seiner an Lautmalereien wie an der Psychoanalyse geschulten „Etym-Theorie“ (die den Gott Pan, die Feder Pen und den Penis verbindet) bei Poe Anzeichen von Impotenz und Pädophilie nebst allerlei Verdauungsproblemen zu finden. Was hier als Inhaltsandeutung natürlich nur eine starke Verkürzung der unaufhörlich ausschweifenden Gedankensprachwelt von „Zettel’s Traum“ bedeutet.

Die nun vorliegende Kurzversion, die auf die beiden Randspalten verzichtet und den Haupttext klug verdichtet, begleiten noch die entspannt kommentierenden Texte von Susanne Fischer. So eröffnet sich selbst für Schmidt-Anfänger das in „Zettel’s Traum“ einmal erwähnte „eigene Schalks-Esperanto“.

Peter von Pecker

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