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Roman „Vorbei ist eben nicht vorbei“: Das Paradies und die Vertriebenen
Kirsten Boie erzählt in „Vorbei ist eben nicht vorbei“ von der Nachkriegszeit. Die Erwachsenen haben vom Holocaust "nichts gewusst" - dann wird es stürmisch.
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Manchmal erscheint das Glück so groß, dass man es kaum fassen kann. Dass sich Karin später genau an diesen Abend erinnern wird, weiß sie gleich. Sie spürt den warmen Sand unter ihren nackten Füßen, sieht die Jungs mit Arschbombe ins Wasser springen und hört das Gelächter in der Luft, als die Sonne langsam hinter den Häusern am Bahndamm verschwindet. Später wird sie staunen, dass es das alles gegeben hat.
Kirsten Boies Roman „Vorbei ist eben nicht vorbei“ beginnt im Sommer 1961. Karin, 13 Jahre alt, lebt mit ihrer Familie in einer Behelfsheim-Siedlung im Hamburger Südosten. Ihr Vater nennt es „Paradies“, auch wenn die provisorisch gedachten Nachkriegsbauten klein sind und eng nebeneinander stehen.
Idylle mit Kanichenstall
Immerhin gibt es einen Garten mit Kaninchenstall darin, ein Nebenarm der Elbe fungiert als Badestelle und der beginnende Wohlstand materialisiert sich in einer gerade erworbenen Fernsehtruhe. Wenn um 17 Uhr das Programm startet und „Fury“ oder die „Firma Hesselbach“ läuft, kommen Oma Domischkat oder die Heinekes von nebenan gerne als Besucher zum Mitgucken. „Wenn man einen Fernseher hat, muss es einem nie mehr langweilig sein“, glaubt Karin.
Zur Pubertät gehören Kämpfe mit den Eltern, hier ausgetragen entlang der Front von Elvis Presley („N-Musik“) versus Hans Albers (Schifferklavier) und besonders heftig in der Frisurenfrage. Karin will ihre Zöpfe durch einen Kurzhaarschnitt ersetzen, was ihre Mutter verbietet: „Pony ist ordinär!“. Aber Boie geht es mehr noch um einen anderen, größeren Konflikt, sie zeigt die feinen Risse, die zwischen den Generationen verlaufen.
Karin sieht in den Fernsehnachrichten Eichmann vor Gericht in Jerusalem, und dann empfiehlt ihr eine Freundin das Buch „Sternkinder“, das vom Schicksal jüdischer Kinder im Nationalsozialismus handelt. Sie wusste nichts von den Morden, ist erschüttert. Die Eltern haben immer vom Bombenkrieg erzählt, nie von den Juden, warum halfen sie ihnen nicht?
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Sie wehren die Fragen ab, werden aggressiv: „Wir haben davon nichts gewusst! Woher denn auch wohl?!“. Dort, wo sie wohnten, habe es keine Juden gegeben. Waren in der alten Heimat von Oma Domischkat denn auch keine Juden? Und bei den anderen Leuten in der Siedlung? Doch Onkel Heinrich, der immer so lustig ist, war in der Waffen-SS. Und im Fotoalbum der Familie sind einige Bilder herausgerissen, nur die Unterzeilen stehen noch da: „Erwischte Freischärler“, „gefangene Heckenschützen“.
Trilogie von Krieg und Nachkrieg
„Vorbei ist eben nicht vorbei“ ist eine überarbeitete Neuausgabe von Kirsten Boies Buch „Ringel, Rangel, Rosen“, das 2009 herauskam. Zusammen mit ihren zuletzt erschienenen Romanen „Dunkelnacht“ und „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ ergibt sich eine Trilogie über die Kriegs- und Nachkriegszeit.
[Kirsten Boie: Vorbei ist eben nicht vorbei. Verlag Friedrich Oetinger, Hamburg 2022. 191 Seiten, 10 €. Ab zwölf Jahre]
Boie erzählt stets aus der Perspektive ihrer jungen Heldin, die Informationen zusammenklaubt aus Gesagten und Nichtgesagten, die staunt, zweifelt und sich empört. Manchmal wird Gesellschaftsgeschichte in einem Nebensatz abgehakt, etwa, wenn eine Freundin von Karin nicht auf die Mittelschule darf, damit ihr keine „Flausen in den Kopf“ gesetzt werden.
Aus dem Paradies kann man vertrieben werden. Hier ist es die Sturmflut von 1962, die dafür sorgt. Das Wasser kommt nachts und es kommt schnell. Weil sich die Tür schon nicht mehr öffnen lässt, flüchten Karin und ihre Mutter durch ein Fenster ins Freie. Sie wollen zum Deich, schaffen es aber nur aufs Teerpappendach ihres Hauses. Das heißt, die Mutter ist gleich wieder weg, um Karins kleinen Bruder Uwe zu retten, der bei einem Freund übernachtet. „Zäune schwimmen vorbei, Schafe schwimmen vorbei. Eine Pforte, ein Tisch; vielleicht ein Mensch.“ Alles ist dunkel und Karin denkt: Sogar die Zeit ist ertrunken.
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