Kultur: Der Champagner sprudelt wie Rap
Der Verführer von Sevilla hat sein Operationsfeld offenbar nach Venetien verlagert.In der Zürcher Neuproduktion von Mozarts "Don Giovanni" suggerieren die konturlosen, diffusen Räume und Landschaften Erich Wonders die von Kanälen durchzogene Flachebene um Vicenza.
Der Verführer von Sevilla hat sein Operationsfeld offenbar nach Venetien verlagert.In der Zürcher Neuproduktion von Mozarts "Don Giovanni" suggerieren die konturlosen, diffusen Räume und Landschaften Erich Wonders die von Kanälen durchzogene Flachebene um Vicenza.Die Bühne dreht und dreht, quirlt die Aktionen und die Akteure unentrinnbar in ihren sich beschleunigenden Malstrom, in den Untergang - der zugleich den Neubeginn signalisiert.Denn Don Giovanni ist keine historische Person, sondern ein Mythos - und der kann nicht sterben.Eben in einem Feuersturm zur Hölle gefahren, treibt er, während seine Opfer ihren erleichterten Abgesang anstimmen, oben auf dem Gerüst erneut sein Unwesen mit der Signora Nummer mille e quattro.Es ist dieser ungeheuerliche Sog, der die Zürcher Neuinszenierung von Jürgen Flimm und Nicolaus Harnoncourt charakterisiert, der am Schluß das Publikum atemloser zurückläßt als die Sänger auf der Bühne.
Es ist ein "Don Giovanni", der ganz aus dem Redefluß der Rezitative, Arien und Ensembles musiziert und gesungen wird.Das läßt jedes Wort verstehen - erübrigt jegliche deutsche Übertitelung des italienischen Dialogs, den die Sänger förmlich auf ihrer Zunge zergehen lassen.Nicht nur Cecilia Bartoli, die als Donna Elvira ihren Text geradezu explodieren läßt, sondern auch Rodney Gilfry, der als Don Giovanni sein "La ci darem la mano" mit einer solchen Erotik auflädt, daß man den Duft seiner Sexiness geradezu zu riechen vermeint, um dann seine Champagner-Arie wie eine Rap-Nummer abzuschnurren und dem zweiten Vers seiner Serenade nochmals eine ganz andere verführerische Note zu geben - als hätte er das Parfüm gewechselt.
Man ist versucht, Harnoncourt die Entdeckung einer neuen Rhetorik der Musiksprache zu attestieren.Auch wenn er hier das normale Orchester der Zürcher Oper dirigiert, ist seine Interpretation geprägt von den Erfahrungen, die er als einer der Pioniere der "authentischen" Aufführungspraxis gewonnen hat: die Klarheit und Farbenintensität der Orchesterstimmen, gerade auch der Bläser, und vor allem die markante, geradezu aggressive Definition der Rhythmen, grundiert durch das stringente Secco der Paukenschläge.Wie er aus den Vorspielen und Eingangstakten die Spannung aufbaut, die dann in den Gesang mündet, und wie er den wieder ausklingen läßt, gewissermaßen als Gedankensammlung vor und nach der Deklamation des Textes, glaubt man so noch nie gehört zu haben.Dies ist ein "Don Giovanni", der jeden Takt der Musik als aus dem Text gezeugt legitimiert: Musikdrama par excellence! Dabei ist dies ein ganz moderner "Don Giovanni": die Sänger tragen zeitlos moderne Kleider: Don Giovanni in seiner finalen Auseinandersetzung mit dem Komtur sogar einen Frack, Leporello einen Rucksack mit einer Seitentasche für den "Catalogo".Aber dies ist keine übergestülpte Modernität wie bei Peter Sellars, sondern die Personen sind von Flimm aus einem ausgesprochen modernen Lebensgefühl individualisiert.Don Giovanni als ein - nur leider laufend frustrierter - Aufreißer natürlich sowieso: ein ausgesprochen narzißtischer Smarty, dem man in jeder Disco begegnen könnte.
Geradezu stupend Bartoli, die sich kürzlich den Fuß gebrochen hat und nun mit zwei Krücken durch das Stück humpelt, die aber ihre Krücken geradezu verinnerlicht hat und wie ein Racheengel einherstürmt.Der mit am meisten von dieser Rollenindividualisierung profitiert, ist Roberto Saccàs süperb, wenn man so will: mit ausgesprochen deklamatorischem Legato gesungener Don Ottavio, der hier der Bildhauer der Grabmalsstatue des Komtur ist.Auch der zunächst noch ganz naiven, aber unheimlich rasch lernenden (und ihre Reize mit ausgesprochen femininem Kalkül ausspielenden) Zerlina von Isabel Rey, der Don Giovanni wie ein Märchenprinz erscheint, kommt diese Individualisierung zugute und nicht zuletzt dem prächtigen Masetto von Oliver Widmer, der nicht der übliche tumbe Tölpel ist, sondern ein durchaus selbstbewußter junger Kerl, der aber keine Chance gegen den angeberischen Blender hat.Beide sind mit frischen Stimmen begnadete Sänger - wie denn überhaupt dies eine der jüngsten "Don Giovanni"- Besetzungen auf diesem sängerischen Niveau sein dürfte, und dazu gehört auch die formidable Elizabeth Magnuson, die als Donna Anna nicht als Sängerin, wohl aber als Charakter gegenüber ihren Kollegen ein wenig blaß erscheint.
Flimms Inszenierung wartet im übrigen mit einer Fülle von kaum zuvor gesehenen Details auf - so wenn er verschiedentlich wie im Film Personen einblendet, auch wenn sie gerade nicht zu singen haben, so im Chor der vollkommen besoffenen Bauern (die Szene ist von einer geradezu Breughelschen Orgiastik), ungemein raffiniert inszeniert auch der Kleidertausch von Don Giovanni und Leporello im Terzett mit Donna Elvira (die Bartoli wagt sich in ihrer Arie "Mi tradi" mit dem mehrfach geforderten hohen B in einen gefährlichen Grenzbereich vor).Unergründlich allerdings das wie ein leitmotivischer Fetisch durch die ganze Oper geisternde blutbefleckte Hemd des Komturs (mit einer Stimme wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts: Matti Salminen), das, säuberlich als Paket verschnürt, zwischen Donna Anna und Don Ottavio hin und her wandert - wie wenn die es gerade zur Reinigung bringen wollten, daran aber immer wieder gehindert werden.Gäbe es analog zum Berliner Theatertreffen ein Operntreffen, der neue Zürcher "Don Giovanni" stünde ganz oben auf der Einladungsliste.
HORST KOEGLER