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Trio infernale. Klaus Kinski, Claudia Cardinale und Werner Herzog (v.l.) bei der Prästehen ihres Wettbewerbsbeitrags "Fitzcarraldo" bei den Filmfestspielen von Cannes im Mai 1982.

© dpa

Der bayerische Samurai: Der Regisseur Werner Herzog wird 80 Jahre alt

Nichts ist so furchterregend, dass es nicht eine eigene Schönheit hervorbringen könnte. Werner Herzog legt seine Erinnerungen mit literarischem Glanz vor.

Von Gregor Dotzauer

Diese Stimme. Eindringlich, druckvoll, geradezu prophetisch, getaucht in ein oberbayerisches Kolorit, das eine Welt ohne Mitleid heraufbeschwört, die auf Menschen gut verzichten kann. Werner Herzog hat sie, vom Alter mittlerweile angeraut, zu einem Instrument kultiviert, das die Off-Kommentare seiner Dokumentarfilme mit einer Aura biblischen Unheils auflädt.

Der Urwald, der im Nu jede Fußspur überwuchert. Der Vulkan, der alles Leben zu seinen Füßen auslöscht. Der Meteorit, der jede Zivilisation beendet. Zwischen Auflehnung gegen die Natur und demütiger Einsicht in das Größere, dem man sich zu fügen hat, entfaltet sich Herzogs stoisches Pathos.

In den Erinnerungen, die er zu seinem 80. Geburtstag vorlegt, führt er die Entdeckung dieser Stimme auf seine Erfahrungen als Hypnotiseur zurück. 1976 drehte er mit einer Equipe angeblich willenloser Schauspieler „Herz aus Glas“, die Geschichte des Mühlhiasl aus dem Bayerischen Wald, einem Visionär des späten 18. Jahrhunderts, der sich in dunklen Weissagungen erging.

Man meint, diese Stimme auch aus seinen Erinnerungen zu vernehmen, die mit „Jeder für sich und Gott gegen alle“ denselben Titel tragen wie sein Kaspar-Hauser-Film aus dem Jahr 1974.

[Werner Herzog: Jeder für sich und Gott gegen alle. Erinnerungen. Hanser, München 2022. 350 Seiten, 28 €.]

Nicht nur, dass sie niemand mehr loswird, der sie einmal im Ohr hat. Wenn es stimmt, dass Schreiben eine Tätigkeit ist, die den ganzen Menschen mit sämtlichen Sinnen, Sehnen und Muskeln beansprucht, dann pulst und vibriert in seiner Prosa eine vergleichbare Mischung von Empfindsamkeit und Härte, Apokalypseerwartung und Geborgenheit im Untergang. Nichts ist so furchterregend, dass es nicht eine eigene Schönheit hervorbringen könnte.

Gnadeerlebnis auf dem nächtlichen Ozean

Schon die Eingangsszene setzt den Ton. Sie zeigt den 16-Jährigen vor Chora Sfakion, an der Südküste Kretas, wie er nachts mit Fischern aufs Meer hinausfährt, über sich schwarze Stille, unter sich ein von Karbidlampen erhellter Ozean, der ihn zur staunenden Überzeugung bringt, er werde diese „Gnade“ höchstens ein oder zwei weitere Jahre überleben.

Dieser frühe Tod ist ihm erspart geblieben, und vom unaufhaltsam nahenden will er nichts wissen. Mit seiner ganzen Schaffenskraft verrät er in einem Kapitel über „Unerledigtes“, dass die Projekte hinter ihm her sind „wie Furien hinter einem her sein können, aber sie fliehen auch vor mir her.“

Wer ist dieser Mann, der, wenn es darauf ankommt, mit unbezwingbarem Selbstbewusstsein jede Bühne besteigt, aber auch jede Gelegenheit nutzt, sich der Öffentlichkeit zu entziehen? Es ist mehr als Koketterie, wenn Herzog behauptet: „Jede Selbstbeschreibung fällt mir schwer, weil ich mit Spiegeln ein Problem habe.“ Seit jeher ist ihm Psychologisierendes zuwider. „Gegen zu viel Selbstbetrachtung, gegen Nabelschau, habe ich eine tiefe Aversion“, bekennt er.

„Ich wäre auch lieber tot, als zu einem Psychoanalytiker zu gehen, weil ich der Ansicht bin, dass da etwas grundlegend Falsches geschieht. Wenn man ein Haus bis in die letzten Winkel grell ausleuchtet, wird das Haus unbewohnbar.“ Selbst in der bewussten Panzerung erlauben die Erinnerungen aber tiefe Einblicke in Herzogs seelischen Haushalt. Das weiß auch er: „Was ich an Filmen gemacht habe, was ich an Büchern veröffentlicht habe, sind genügend Einfallstore, Breschen in meine Festung, die schon dadurch gähnend weit schutzlos und offen steht.“

In seinem Buch steckt aber auch die Hoffnung, es künftigen Biografen damit ein Stück schwerer zu machen – und bestehende Porträts wie das von Moritz Holfelder ein für allemal zu überschreiben. Was seine filmische Entwicklung angeht, ist vieles den Grundzügen nach bekannt. In zahllosen Interviews, die er – Thema mit Variationen – zur eigenen Kunstform ausgebaut hat, und in „A Guide for the Perplexed“, einem dicken Gesprächsband mit Paul Cronin, finden sich bereits viele Anekdoten.

Die ersten Jahre mit Klaus Kinski, insbesondere die Zeit in einer Pension in der Münchner Elisabethstraße, bei der sein späterer Protagonist in einem zweitägigen Tobsuchtsanfall das Badezimmer zerlegte, hat Herzog überdies in dem Film „Mein liebster Feind“ dokumentiert.

Obsessionen, die auch künstlerisch zünden

Die Erinnerungen rücken viele Vorkommnisse, die er zum Teil schon in unzuverlässigeren Versionen in die Welt gesetzt hat, in einer Fassung letzter Hand zurecht. Er legt aber auch die Ursprünge vieler Obsessionen offen, etwa seine Faszination für das Skispringen. Anderes wie seine späte Leidenschaft für das Inszenieren von Opern wird hier zum ersten Mal ausführlich dargestellt. Biografisch wie literarisch ergiebig sind vor allem die Aufzeichnungen, die von manchen Drehs geblieben sind.

„Die Eroberung des Nutzlosen“, seine Notizen über die Arbeit an „Fitzcarraldo“, die hier in Auszügen wiederkehren, wurden ja zu einem eigenen Band, der nach dem Tagebuch „Vom Gehen im Eis“ seinen Ruf als Stilist bekräftigte. Nun berichtet er, wie schwer es ihm fiel, sich mit den teils traumatischen Erfahrungen jener Zeit wieder auseinanderzusetzen.

Dicht auch die Seiten, die er 1984 anlässlich der „Ballade vom kleinen Soldaten“ schrieb. Der Film handelt vom Guerillakampf der Miskito-Indigenen in Nicaragua, die erst mit den Sandinisten gegen Somoza, dann gegen sie kämpften und zahlreiche Kinder in diesen Krieg schickten. Oder die Bruchstücke von Herzogs nach tausend Kilometern krankheitsbedingt abgebrochener Deutschlandumwanderung, die er im Juni 1982 auf dem Chiemgauer Spitzstein oberhalb von Sachrang begann, dem Dorf, in dem er aufwuchs.

Schließlich die Zeugnisse von seiner Alpenüberquerung 1986. Herzog ordnet sein Leben in Schlaglichtern, denen man neben ihrer Heterogenität den Vorwurf der Resteverwertung machen könnte. Doch aus dem Fragmentarischen und dem Auserzählten, dem mühsam Erforschten und dem Gefundenen erwächst die Spannung dieser Erinnerungen, die eben keine falsche Bündigkeit vortäuschen wollen.

Die Überraschung sind die Erinnerungen an Ella und Rudolf, seine Großeltern väterlicherseits. Er ein Professor der Altphilologie, der auf der damals türkischen Insel Kos die Ausgrabung antiker Schätze beaufsichtigte, sie seine sehr viel jüngere, überaus belesene Frau.

Ein Paar, von dem er sicher einen Teil seiner Expeditionslust erbte, während sein Vater Dietrich, dem zusammen mit der Mutter Elisabeth gleichfalls ein eigenes Kapitel gewidmet ist, bei aller Wissensgier ein ins Flunkern verliebter Halodri blieb, der sich auf anderer Leute Kosten durchs Leben schlug und die Mutter bald verließ. Von ihr hat er wohl seine Zähigkeit geerbt: „Ein guter Teil meines Wesens bis heute ist nichts als nackte Disziplin.“

Ein Kind des Krieges, nicht des Friedens

Werner Herzog zeigt sich in seinen Erinnerungen von Neuem als ein Kind des Krieges, nicht des Friedens – und als ein Kind der Berge, nicht der Stadt. Liebevolle Porträts gelten frühen Helden wie dem Sturm Sepp, einem vom Leben und der Arbeit verkrümmten Knecht vom Nachbarshof, oder dem einzigen Mädchen in der Freundesschar, der „Weibi“.

Überhaupt steckt dieses Buch voller Menschen: den beiden Brüdern, unter denen „Lucki“ seine Produktionsgeschäfte führt, und, mit der nötigen Diskretion, den Frauen und Kindern. Außerdem treten auf: der Germanist Hauke Stroszeck, dem er als Student das Versprechen gab, seinen Namen weltberühmt zu machen, wenn er ihm eine Seminararbeit schreiben würde: Mit „Stroszek“ hat er es erfüllt. Der spätere RAF-Terroristen Rolf Pohle. Oder Bruce Chatwin, über den er einen seiner jüngsten Filme drehte.

Herzogs Erinnerungen sind über weite Strecken sorgfältiger geschrieben als zuletzt „Das Dämmern der Welt“, sein kleiner Roman über den japanischen Soldaten Hiroo Onoda, der sich im Glauben, der Zweite Weltkrieg dauere an, noch fast drei Jahrzehnte nach der Kapitulation auf einer Pazifikinsel verschanzte. Auf seine Weise stilisiert sich auch Herzog in „Jeder für sich und Gott gegen alle“ zu einem letzten seiner Art, feinnervig und vollmundig zugleich.

„Ich halte das 20. Jahrhundert in seiner Gesamtheit für einen Fehler“, schreibt er einmal. Im weit fortgeschrittenen 21. Jahrhundert kann sich vielleicht wenigstens damit trösten, dass es ihn, seine Filme und Bücher hervorgebracht hat.

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