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Zum Tod von Milan Kundera: Der tschechische Schmetterling
Mit dem Roman „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ gelang ihm ein Welterfolg. Jetzt ist der Schriftsteller mit 94 Jahren in seiner Wahlheimat Paris gestorben.
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Als am 1. April dieses Jahres, dem Tag seines 94. Geburtstags, als in Milan Kunderas Heimatstadt Brno die nach ihm benannte Bibliothek eröffnet wurde, waren weder er noch seine Frau Vera mit von der Partie. Doch dass aus seiner Pariser Wohnung rund 4000 Bücher von ihm und über ihn zusammen mit 25 Kisten persönlichen Archivmaterials den Weg in den ersten Stock der Mährischen Staatsbibliothek fanden, war symbolisch genug. Der Schriftsteller, 1979 von der damaligen Tschechoslowakei ausgebürgert, vier Jahre, nachdem er in einem Renault 5 die politische Tristesse Prags hinter sich gelassen hatte und einer Einladung an die Universität von Rennes gefolgt war, wollte auch mit dem postkommunistischen Tschechien lange nichts zu tun haben.
Noch im November 2018 hatte Ministerpräsident Andrej Babiš die Kunderas in Paris besucht, die beiden nach Prag eingeladen und ihnen die Rückgabe der tschechischen Staatsbürgerschaft angeboten. Auf einer Wohnzimmerlampe las er „Je m’en fous“: Ist mir scheißegal. Er schaffte es dennoch, Kundera umzustimmen: Seit 2019 besaß dieser auch wieder einen tschechischen Pass.
Der 18-jährige Prager Student der Literatur und der Musik war seinerzeit mit wehenden Fahnen der KP beigetreten. Kurz darauf wurde er wegen individualistischer Tendenzen ausgeschlossen und von der Karls-Universität relegiert. Eine zweite, längere Affäre mit der Partei endete, nachdem er zu den schreibenden Protagonisten des Prager Frühlings gehörte, 1968 mit einem Publikationsverbot und der Entlassung von der Filmhochschule, an der er Weltliteratur lehrte.
Essayistische Einsprengsel
Von seinen frühen Gedichten, die nie mehr aufgelegt wurden, hatte er sich damals schon entfremdet, wie er, der Sohn eines Musikkonservatoriumsrektors und Leoš-Janáček-Schülers, überhaupt glaubte, sein schriftstellerisches Ich erst 1959 mit der Erzählung „Ich, der traurige Gott“ gefunden zu haben. Es dauerte dann noch einmal acht Jahre, bis „Der Scherz“ den Auftakt zu einer Romantetralogie bildete, in der er seinen typischen, mit essayistischen Einsprengseln arbeitenden Stil entwickelte, den er lange vor seinem Welterfolg „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“ (1984) zur Meisterschaft führte. Ausgehend vom Einmarsch der Russen in Prag entfaltet Kundera darin die spannungsreiche Beziehung von Tomas, dem lüsternen Chirurgen, und Teresa, der duldsamen Kellnerin, in der ihm eigenen Mischung aus vorwärtsdrängendem Erzählen und reflektierendem Innehalten.

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Kundera lehnte aus Prinzip alle Prinzipien ab. Auch deshalb blieb er über die Jahrzehnte so wandlungsfähig. Es gibt durchaus mehrere, einander überlagernde wie aufeinander folgende Kunderas, die sich in entscheidenden Prägungen doch treu blieben. Literarisch reihte er sich ein in eine Tradition, als deren frühe Höhepunkte er Miguel de Cervantes’ „Don Quijote“ und Denis Diderots „Jacques der Fatalist und sein Herr“ verehrte, um dann Franz Kafkas Schuldgebirge und Hermann Brochs Irrationalitätslabyrinthe zu durchqueren. Der kanadische Literaturwissenschaftler François Ricard hat mit „Agnes’ letzter Nachmittag“ einen brillanten Essay vorgelegt, der ganz aus dem Inneren von Kunderas Werk heraus dessen um Kampf und Exil kreisende Einheit darzustellen versucht und sich dabei mit allen Vor- und Nachteilen an das anschmiegt, was Kundera selbst von sich preisgegeben hat.
Als öffentliche Person bewegte sich Milan Kundera an der Grenze zur Unsichtbarkeit. In Fernsehinterviews wirkt er zwar alles andere als scheu, doch hatte über temperamentvolle Einlassungen zur Literatur hinaus wenig Interesse, etwas von sich preiszugeben. Zu seinem privaten Leben hatten nur Wenige, wie Tomáš Kubícek, der Direktor der Mährischen Staatsbibliothek, Zugang. „Ich träume von einer Welt, in der Schriftsteller gesetzlich verpflichtet wären, ihre Identität geheim zu halten und ein Pseudonym zu verwenden“, erklärt er in seinem Essay „Die Kunst des Romans“. Gut möglich, dass auch die nie aufgeklärten, im Jahr 2008 eskalierenden Vorwürfe, er habe als 20-Jähriger einen tschechischen Westagenten an die Polizei verraten, der Lust am Verschwinden bis zuletzt Vorschub leisteten. Sie betrafen einen Kundera, der die Erinnerung an vergangene Zeiten ein für allemal ablegen und sie einem Ich überlassen wollte, das er nicht mehr war.
Giftige Ironie
Biografischen Deutungen entkommen wird er dennoch nicht, zumal seine Romane Liebe und Sexualität, Politik und Widerstand, Treue und Verrat, Heimat und Flucht auf eine Weise verhandeln, die ohne lebensgeschichtliche Grundlagen undenkbar sind. Das beginnt mit seinem ersten großen Roman „Der Scherz“ (1967), der mit giftiger Ironie in die Abgründe des Kommunismus leuchtet, und reicht bis zu seinem späten Kurzroman „Das Fest der Bedeutungslosigkeit“ (2015).
1978 ließ er sich von der École des hautes études en sciences sociales nach Paris locken. 1981 erhielt er einen französischen Pass. 1995 begann er mit dem Roman „Die Identität“ ausschließlich auf Französisch zu schreiben. Das war der offensichtlichste Bruch in seinem Leben – und doch nur eine weitere Verpuppung. Er konnte seine schon zu Gymnasialzeiten gewonnene Begeisterung für alles Französische von den Surrealisten bis zu Sartre endlich in vollem Umfang ausleben. Im Exil, bekannte er, sei er von der ersten Minute an glücklich gewesen. Noch nachdem er das Land und die Literatursprache gewechselt hatte, blieb er aber die größte Autorität der tschechischen Literatur - und wird es wohl auch über seinen Tod am vergangenen Dienstag hinaus noch eine Weile bleiben.
Die Fragestellungen seiner Romane (und das Ringen mit der Gattung) prägen auch seine Essaybände „Verratene Vermächtnisse“ (1993) oder „Eine Begegnung“ (2009). Ihre kleinteilige, das Leichte bewusst mit dem Schweren ausbalancierenden Beweglichkeit ist womöglich haltbarer als so mancher kaleidoskopisch verspielte und verspiegelte Roman mit seinen philosophischen Spruchweisheiten – und seinen Perspektiven auf Geschlechterverhältnisse, die aus sehr männlicher Sicht auf die Befreiung von Sexualität als Freiheit schlechthin schauen.
Der gelernte Mitteleuropäer Kundera war auch ein überzeugter Anwalt des Kulturkontinents. Zwar sah er schon 1985 in einem berühmten Essay die gemeinsame Kultur entschwinden und gab die melancholische Devise aus: „Ein Europäer: wer Heimweh nach Europa hat“. Doch auch das unter der bürokratischen Brüsseler Firnis dahindämmernde Europa wollte er nicht verlorengeben. Noch zu seinem 90. Geburtstag unterschrieb er zusammen mit Elfriede Jelinek, Ian McEwan, Adam Michnik und Orhan Pamuk ein „Manifest europäischer Patrioten“ wider die populistischen Brandstifter dieser Jahre.
Bald kann man das teils vergriffene Gesamtwerk wieder lesen und genauer überprüfen, wie frisch es geblieben ist: Der Zürcher Kampa Verlag hat sich die Rechte am Gesamtwerk gesichert und will es von diesem Herbst an neu herausbringen.
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