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Der Rätselhafte, zugleich scheu und ein Meister der Ironie: Claude Debussy (1862–1918).

© picture-alliance / maxppp

Zum 100. Todestag von Claude Debussy: Der Wellengänger

Zum 100. Todestag von Claude Debussy lässt sich das Werk des französischen Komponisten immer noch neu entdecken. Mit einer opulenten CD-Box und in Berliner Konzerten.

Als er einmal aufgefordert wird, den Fragebogen eines englischen Magazins auszufüllen, gibt er an, dass er am liebsten Seemann geworden wäre. Als Lieblingsbeschäftigung nennt der gerade 27 Jahre alte Komponist das Rauchen von exklusivem Tabak beim Lesen, als musikalische Vorbilder bezeichnet er Palestrina, Bach und Wagner. Ob man diesem Selbstporträt von Claude Debussy, der heute vor 100 Jahren starb, trauen kann? Oder erinnert es mehr an das Schicksal seines Werks, von dem es nur eine schmale, unwiderstehliche Auswahl ins klassische Repertoire geschafft hat, während der größte Teil im Dunkeln bleibt? Schon seine Zeitgenossen hatten ihre liebe Mühe mit dem Komponisten. Sein Kollege Jules Massenet prägte den Ausspruch „Debussy, c’est l’enigme“, Debussy ist ein Rätsel. Gleichzeitig nennt man Debussy heute einen Wegbereiter der Moderne – und meint damit unter Umständen das Gleiche.

Das Leben von Debussy, der früh, peinlich berührt, seinen eigentlichen ersten Vornamen Achille ablegt, ist umschlossen von deutscher Aggression. Der Krieg von 1870 zwingt die Familie, aus Paris zu fliehen, seine ersten Klavierstunden erhält der Achtjährige in Cannes. Das Klavier wird das Instrument, mit dem er sich auszudrücken vermag wie kaum ein anderer.

Er erlangt eine verstörende Meisterschaft. Auch wenn sein Spiel nie völlig frei von Unbeholfenheit und Schwerfälligkeit gewesen sein soll, gelingt es ihm, einen unerhörten Klang zu erfinden, leicht und zart, der die Mechanik des Instruments vergessen macht. Hinzu kommen unvorhersehbare und fast nicht zu greifende Akkordfolgen seiner schwerelosen linken Hand. Als Pianisten ihn fragen, wie sie seine Werke spielen sollen, wird er später sagen: „Hauptsache, ich vergesse, wenn ich Ihnen zuhöre, dass das Klavier Hämmer hat.“ Gerade technisch brillante Interpreten vernachlässigen diese Regel gerne.

Debussy hat die Gabe, das Klavier singen zu lassen. Sie wird genährt von Chopin, dessen Musik er mit Leidenschaft spielt und neu herausgibt – und sie wirkt fort im Jazz, von dem Friedrich Gulda einmal sagte, er lebe zur Hälfte von Debussy: befreite Akkorde inmitten einer Bewegung, die wie improvisiert erscheint und doch das Ergebnis von genauesten Notentexten ist. Das, was seine akademischen Lehrer als „vagen Impressionismus“ geißelten, als bloße modische Aberration, ist in Wirklichkeit Debussys intellektuelle Ruhelosigkeit, der in seinen eigenen Worten „die Musik hinter allen Schleiern sucht, mit denen sie sich verhüllt, selbst vor ihren glühendsten Anhängern“. Wenn seine Kompositionen gerne weichgezeichneten Bilderfolgen unterlegt werden, ist dies mutwillige Täuschung. Debussys Musik vernebelt nichts, sie unterwirft auch niemanden wie die Werke des zunächst von ihm noch bewunderten Wagner.

Als Kritiker erfand Debussy die ironische Figur des Monsieur Croche

Um mit seiner nie versiegenden Kritik an der akademischen Ausbildung, am Konzertbetrieb und der Vormacht deutscher Musik ein wenig dringend benötigtes Geld zu verdienen, erfindet Debussy die Figur des Monsieur Croche, auf Deutsch Herr Achtelnote. Das publizistische Sprachrohr seiner Ironie befindet sich mit dem Komponisten in Einklang, wenn Monsieur kundtut: „Den Anbruch des Tages zu erleben ist nützlicher, als die Pastoralsinfonie zu hören.“ Croche konnte nicht ahnen, dass 1918 eine öffentliche Begräbnisfeier für Debussy wegen deutscher Bombardements der französischen Hauptstadt ausfallen würde – aber er wäre vor dieser historischen Pointe nicht zurückgeschreckt.

Zum 100. Todestag hat sich der Fall Debussy keineswegs erledigt, im Gegenteil. Noch immer werden bislang unbekannte Manuskripte gefunden und eingespielt, wie man es auf der neuen 33-CD-Box von Warner erleben kann. Erstmals ist dort etwa das bezaubernde „Chanson des brises“ für Sopran, Frauenchor und Klavier zu vier Händen von 1882 zu hören, Teil jenes frühen, rauschhaften Liederschaffens, das sich einer leidenschaftlichen Liaison mit der verheirateten Marie Vasnier verdankt. Sie muss einen hohen, beweglichen, leicht irrlichternden Sopran besessen haben, den Debussy über den Wellen des Chores tanzen lässt, sechs Minuten ohne Schwerkraft. Madame Vasnier liebte zudem Lieder, in denen sich die Silben von der Semantik lösten, eine Sirene, die Debussys Klangfantasie anregte.

Claude Debussy (1862-1918) auf einem undatierten Foto.
Claude Debussy (1862-1918) auf einem undatierten Foto.

© AFP

Auf CD 24 folgen auf das „Chanson des brises“ jene schicksalhaften Werke, mit denen der junge Komponist versuchte, den Prix de Rome zu erringen. Er wird ihm im zweiten Anlauf gewährt, macht Debussy aber nicht froh: Die akademische Gängelung seiner Neugier verstimmt ihn ebenso wie die Entfernung zur Geliebten beim Studienaufenthalt in Rom. Widerstand bricht sich in den Arbeiten Bahn, die er zur Begutachtung nach Paris schicken muss: „Herr Debussy scheint gegenwärtig von dem Wunsch besessen, etwas Bizarres, Unverständliches, Unausführbares zu schaffen“, urteilen die Professoren.

Neugierige werden eintauchen und sich verlieren in der neuen Debussy-Box, die auch deshalb den Titel „The Complete Works“ verdient, weil sie Varianten umfasst. Der unstete Schaffensfluss des Komponisten, die vielfältigen Projekte, die sein Interesse wecken, führen dazu, dass viele Werke zunächst für Klavier entstehen; die Orchesterfassungen mit Hilfe von Vertrauten wie André Caplet folgen. Der Fundus der Warner-Aufnahmen zeigt so auch das engste Umfeld des Künstlers und lässt sogar Debussy selbst die Tasten streicheln. CD 33 umfasst frühe Schalltrichteraufnahmen von 1904, auf denen der Komponist in seiner Lieblingsrolle als Interpret zu hören ist. Er begleitet Mary Garden, die seine erste Mélisande war, ferner Klang, ganz nah. 1913 spielt Debussy am Welte-Klavier; auf Lochstreifen gebannt, kann er heute wieder gehört werden. „Children’s Corner“ etwa spielt der Urheber erheblich schneller und fließender als Samson François 1969. Eine dritte Version hält die Box mit Caplets Orchesterfassung von 1910 bereit.

Bei den Festtagen der Staatsoper präsentiert Daniel Barenboim reichlich Debussy

Für etwa 70 Euro gibt es unendlich viel zu entdecken, zum Beispiel die Fragmente des Opernprojekts „Der Fall des Hauses Usher“ nach Edgar Allen Poe. Knapp 30 Minuten konnte Debussy für Stimmen und Klavier notieren. Man darf gespannt darauf sein, wie Annelies Van Parys im Oktober im Alten Orchesterprobensaal der Staatsoper daraus einen ganzen Opernabend arrangieren wird. Natürlich schimmert nicht jede der 33 CDs wie Gold, aber Debussy-Freunde werden ohnehin ihre Lieblingsversion des „Pelléas“ oder der Préludes im Regal haben.

Starpianist Maurizio Pollini hat für die Deutsche Grammophon mit 20 Jahren Abstand den zweiten Band der Préludes wieder aufgenommen.
Starpianist Maurizio Pollini hat für die Deutsche Grammophon mit 20 Jahren Abstand den zweiten Band der Préludes wieder aufgenommen.

© DPA/Everett Kennedy Brown

Die CD-Beiträge der Superstars zum Jubiläum hingegen enttäuschen. Maurizio Pollini nimmt für die Deutsche Grammophon mit 20 Jahren Abstand den zweiten Band der Préludes auf, die unter seinen Händen keinen Ruhepol finden. Dort überschärft, aber ohne die frühere Konsistenz des Analytikers Pollini, hier ins Unscharfe verrutscht. Daniel Barenboim studiert mit der Staatskapelle eine beeindruckende Bandbreite aus Debussys Schaffen ein: zu den Festtagen der Staatsoper „Le Martyre de Saint Sébastien“ (29.3.) und Werke für zwei Klaviere mit Martha Argerich (31.3.), es folgen ein Debussy-Abend mit Anna Prohaska und Marianne Crebassa (1./3.5.) sowie „Pelléas und Mélisande“ (ab 27.5.). Bei der Grammophon bringt Barenboim eine CD heraus, die man nur als Verlegenheitswerk bezeichnen kann, mit dem ersten Band der Préludes, aufgenommen vor zwei Jahrzehnten, den jüngst eingespielten Estampes, natürlich „Clair de lune“.

Auch die Staatsopern-Festtage unter Leitung von Daniel Barenboim würdigen den Jubilar Debussy.
Auch die Staatsopern-Festtage unter Leitung von Daniel Barenboim würdigen den Jubilar Debussy.

© AFP/Odd Andersen

Obwohl Barenboim über die Gabe verfügt, auch oft Gehörtes wie improvisiert erscheinen zu lassen, scheitert er hier an Debussy, weil seine Freiheit von der Präzision lebt. Wer sich die Klavierwerke neu zulegen will, findet in der 5-CD-Box von Alain Planès (Harmonia Mundi) einen zuverlässigen Begleiter mit intimem Tonfall und hört sie mit diesem Satz des Komponisten im Hinterkopf mit noch mehr Gewinn: „Damals wie heute glaube ich, dass es die perfekte Harmonie nicht gibt.“

Zwei entlegene Orte tragen den Namen Debussys: ein Hauptgürtelasteroid, der irgendwo zwischen Mars und Jupiter seine Bahnen zieht, und ein vereistes Gebirge vor der Westküste der Antarktischen Halbinsel. Es ragt östlich des MozartPiedmont-Gletschers auf, sein höchster Gipfel auf 1300 Metern wurde Ravel Peak getauft. Debussy, den scheuen Meister der Ironie, hätte das gefreut.

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