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Komische Oper: Der Zauderkönig

Familiendrama auf der Wendeltreppe: Christian Josts „Hamlet“-Uraufführung an der Komischen Oper Berlin.

Zuallererst: Niemand braucht vor dieser Musik Angst zu haben. Es wird schön gesungen, auf der Bühne gibt es keine Unanständigkeiten, Chor und Orchester dürfen zeigen, was sie alles können, und obwohl Christian Josts „Hamlet“ eine ganz neue Oper ist, weiß man immer genau, ob die Musik gerade aufgeregt, traurig oder nachdenklich gemeint ist. Und das gefällt bei der Premiere in der Komischen Oper allen so gut, dass nachher nicht nur die Sänger und das Inszenierungsteam, sondern auch der Komponist weit mehr Applaus ernten, als es bei Uraufführungen die Regel ist.

Wem das noch nicht reichen sollte, der kann dem Programmheft die Versicherung entnehmen, dass diese Oper außerdem noch ein tiefsinniges, komplexes, überaus klug konzipiertes Stück Musik ist. Was bleibt da noch zu kritisieren? Nun ja, vielleicht gerade dies: dass diese knapp zweieinviertel Stunden, die mit Shakespeares Prinzendrama immerhin einen existenziellen Stoff des literarischen Weltkulturerbes auf die Opernbühne wuchten, gar so glatt vergehen. Dass die Geschichte am Ende, wenn die Musik sanft verebbt, aufgeht wie eine sauber gelöste Gleichung und kein Rest da ist, an dem man sich irgendwie abzuarbeiten hätte.

Ein so reibungsloser Abend ist aber auch eine Überraschung. Erst heute, hatte Jost vor der Premiere erklärt, habe die Musik die Mittel, Hamlets Frage nach „Sein oder Nichtsein“ zu beantworten. Das Zusammenwirken von Chor, Orchester und Solisten in der Oper könne die Vielzahl der Einflussfaktoren abbilden, die auf die Entschlüsse des Menschen einwirkten. In seiner 2005 in den Sophiensälen uraufgeführten Choroper „Angst“ war es Jost gelungen, diese Mixtur aus Sehnsüchten und Erinnerungen, hormonellen Reaktionen und nervlichen Impulsen hörbar zu machen. Die Sekunde, in der ein Bergsteiger entscheiden muss, ob er das Seil mit dem abgestürzten Freund abschneidet, wurde zum Kristallisationspunkt eines Musiktheaters, das die Frage nach dem Menschsein (oder Nichtsein) ohne den Zwang äußerer Handlung beantwortete.

„Angst“ brachte Jost den Auftrag für die Komische Oper ein, und es braucht nicht viel Fantasie, um das „Angst“-Prinzip auf den melancholischen Dänenprinzen anzuwenden. Hamlet, das ist der Typ des intellektuellen Zauderers, dessen Passivität nicht von Antriebsschwäche, sondern vom inneren Widerstreit des sich gegenseitig blockierenden Für und Wider kommt. Schon die Handlung des Dramas liest sich wie eine Versuchsanordnung. Wie viel an katalysierenden Schicksalsschlägen braucht es, bis die aufgestaute Energie Hamlets sich entladen kann? Reicht die Erkenntnis, dass sein Onkel Claudius und seine Mutter Gertrud für den Tod des Vaters verantwortlich sind? Muss erst noch der Wahnsinn seiner Geliebten Ophelia dazukommen? Oder reagiert dieser Träumer am Ende nur, wenn er durch die direkte physische Bedrohung in Gestalt von Ophelias rachedurstigem Bruder Laertes gefordert wird?

In zwölf unabhängige Tableaus hat Jost seine Oper gegliedert – in ihrer Reihenfolge austauschbare Szenen, die alle Hamlets Entscheidung beeinflussen, dem eigenen Leben schließlich ein Ende zu setzen. Wer das nicht vorher weiß, merkt allerdings nichts davon. Streng chronologisch erzählt Andreas Homoki die Geschichte – nicht als rasenden Stillstand, sondern als artige Literaturoper. Hamlet zu Fuß. Allein das karge, nur aus einer DNA-ähnlichen Wendeltreppe und einer palettenartigen Scheibe bestehende Bühnenbild und das nivellierende Weiß der Kostüme (Ausstattung: Wolfgang Gussmann) könnten einen Hinweis darauf geben, dass die Oper nur in Hamlets Schädel stattfindet. Das Bedeutungspotenzial dieses post-beckettschen Achtziger-Minimalismus ist in Berlin freilich schon durch zahllose Peter-Mussbach-Inszenierungen an der Staatsoper aufgebraucht.

So sehr Homokis handwerkliche Genügsamkeit dem Verständnis der Geschichte dienen mag, so gefährlich ist sie für die Musik, indem sie vor allem ihre illustrativen Qualitäten hervorkehrt. Im „Hamlet“ sind es die Posaunen und die tiefen Streicher, die mit satten Trauertönen den tragischen Faltenwurf der Musik bestimmen. Die Flöten sind für Empfindsamkeit zuständig, für Spott- und Hohngemecker dagegen vorzugsweise die hohen Klarinettentöne. Hamlet, der Träumer, bekommt aparte Gesangslinien zugewiesen, die sich in ornamentalem Mäandern um jede Entscheidung drücken, Ophelia überschreitet die Grenze in den jenseitigen Wahn über die Brückenpfeiler hoher Töne, über die ihr niemand folgen kann. Wie man das eben so macht.

Ob Josts Musik noch mehr leistet als ein professionelles Bedienen des großen Opernapparats, bleibt bei der Uraufführung offen – auch weil Carl St. Clair am Pult des Orchesters seinerseits hauptsächlich diese bühnenwirksame Seite der Musik betont, sie kräftig auskoloriert und in Gefühligkeit schwelgt. Dass die Sänger mit Ausnahme von Hamlet selbst nur als marionettenhafte Typen gezeichnet sind, ist Absicht. Das Sänger-Ensemble um Gertrud Ottenthals Gertrude, Jens Larsens Claudius und Karolina Anderssons Ophelia behauptet sich allerdings mit so kräftigem Eigenleben, dass das Konzept der Oper im Kopf auch von dieser Seite her kippt. Bleibt Hamlet selbst, den Jost seiner Frau, der Mezzosopranistin Stella Doufexis, auf den Leib geschrieben hat: Ihr heller, schlanker Mezzosopran wirkt mitunter fast transparent – wie ein dünnwandiges Gefäß, das die vielstimmig aufgesplitterte Erregtheit von Chor und Orchesterstimmen umfasst. Zumindest war’s wohl so gemeint.

Wieder am 1., 6., 24. und 31. Oktober.

Jörg Königsdorf

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