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Wahlkämpfe in Deutschland nach 1945: Dialog statt Bürgerkrieg: Propaganda nach Hitler

Deutsche Wahlkämpfe nach 1945: Unter dem griffigen Titel "Propaganda nach Hitler" legt Thomas Mergel eine Kulturgeschichte vor - und lässt ein schmutziges Thema einfach aus.

Winston Churchill wird die Aussage zugeschrieben, Wahlkämpfe in der Demokratie müssten einen Hauch von Bürgerkrieg spürbar machen, denn nur so ließen sich die Wähler am Ende zur Stimmabgabe mobilisieren. Der Berliner Historiker Thomas Mergel vertritt in seinem Buch „Propaganda nach Hitler“ eine entgegengesetzte Position: Wahlkämpfe, zumindest in der Bundesrepublik, seien Phasen der intensiven demokratischen Selbstverständigung einer Gesellschaft, in der zentrale Themen des Gemeinwesens pointiert verhandelt würden. Die Pointe dieser Deutung kommt allerdings schon im Buchtitel zum Ausdruck: Denn (Wahl-)Propaganda nach Hitler bedeutet eben, mit dem von seiner ursprünglichen Genese her durchaus bürgerkriegsmäßigen Kommunikations-Repertoire der Nationalsozialisten für die nüchterne Sache der Demokratie zu werben.

Mergel schildert in seiner überaus gelungenen Studie den schwierigen Aushandlungsprozess, den Politiker, Politikmanager, Medien und auch die Bürger seit den späten 1940er Jahren durchliefen, bis der bundesrepublikanische Wahlkampf seine endgültige, demokratiekonforme Form- und Funktionsbestimmung erlangt hatte. Anschaulich zeichnet Mergel die Professionalisierung der politischen Werbung, ihre gleichzeitige Verwissenschaftlichung und Veralltäglichung in den Wahlkämpfen 1945-1990 nach. Gleichzeitig lässt er aber auch die Empfänger dieser Werbebotschaften, die Wählerinnen und Wähler, ausführlich zu Wort kommen und zeigt, dass es vor allem die Bürger waren, die sich die Politik (und auch die Politiker) aktiv aneigneten und mit ihrem Hunger nach handfesten Informationen eine Entideologisierung und Versachlichung des Wahlkampfs erzwangen. So nahmen in den 1960er Jahren rund zehn Prozent der Bürger an Wahlversammlungen teil und widerlegten damit Konrad Adenauer, der 1953 gemeint hatte, „reden würde nicht so viel helfen.“ Mergels Buch ist also nicht nur eine Rekonstruktion von Wahlkampfstrategien, sondern auch eine Geschichte der Medialisierung und der sich wandelnden Mentalitäten. Obwohl Mergel auch auf die Ideologisierungen, unangemessenen Zuspitzungen und ehrabschneidenden Verletzungen der Wahlkampfgeschichte eingeht (so bezeichnete Adenauer Willy Brandt 1961 nicht nur als „Brandt alias Frahm“, sondern nannte ihn auch einen „Bastard“) überwiegt bei ihm ein positives Bild, dass eine allmähliche Zivilisierung des Wahlkampfs zeichnet, die mit der Durchsetzung der Demokratie in Westdeutschland einhergeht: Der frühere Feind wird zum politischen Gegner, es erfolgt eine „Entdramatisierung, die den Wahlkampf von einem Kampf auf Leben und Tod zu einer auf Zeit angelegten Entscheidung zwischen erwägenswerten Alternativen“ macht.

Wahlkampf in seiner Idealform ist dann die Verdichtung des Dialogs zwischen Wählern und Gewählten, der am Wahlsonntag mit der Stimmabgabe als demokratischem Hochamt seinen Höhepunkt erfährt. Die Gesellschaft verständigt sich im intensiven Gespräch über ihre eigenen Grundlagen, Wahlkampfslogans („Keine Experimente“, „Willy wählen“) – sorgfältig in den Parteizentralen erarbeitet und demoskopisch vielfach getestet – bringen das Zeitklima auf den Punkt und prägen die politische Sozialisation ganzer Generationen.

Den schmutzigsten Punkt des Wahlkampfs klammert Mergel in seinem Buch allerdings vollkommen aus: die jahrzehntelange Praxis illegaler Wahlkampffinanzierung durch die Parteien, die zweifelsohne keinen Höhe-, sondern einen Tiefpunkt der bundesdeutschen Demokratie markiert.

– Thomas Mergel: Propaganda nach Hitler. Eine Kulturgeschichte des Wahlkampfs in der Bundesrepublik 1949-1990. Wallstein Verlag, Göttingen 2010, 415 Seiten, 29.90 Euro.

Thymian Bussemer

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