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Christoph Marthaler: Die doppelte Elisabeth

Christoph Marthaler ist wieder in Berlin. An der Volksbühne zeigt er Ödön von Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“.

Willkommen auf der universellen Schrumpfstufe: Das „anatomische Institut“, dem die mittellose Elisabeth aus Ödön von Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ schon mal perspektivisch ihre Leiche verkaufen will, hat nur noch neun Buchstaben. „Anat m Inst“ prangt über der Behörde. Der launige Leiharbeiter im Blaumann (Thomas Wodianka), der sich zu Beginn von Christoph Marthalers Inszenierung halbherzig an die Reparatur macht, scheitert an einer defekten Holzleiter. Und im Orchestergraben ist der Pianist Clemens Sienknecht mit Chopin, Schubert und gelegentlichen Pop-Exkursen mutterseelenallein zu Gange. Auf den zusammengewürfelten Musikerstühlen werden die Bläser und Streicher komplett durch handelsübliche Lautsprecher vertreten.

1932 entstanden, demonstriert Horváths von einem realen Gerichtsfall inspiriertes Stück eine gnadenlose Abwärtsspirale, sozusagen den freien Fall durch die Wirtschaftskrise: Weil sie ohne Gewerbeschein gearbeitet hatte, muss Elisabeth eine Geldstrafe abstottern und gilt zudem als vorbestraft. Das läppische Sündenregister, aus dem sie sich in den folgenden fünf Bildern herauszustrampeln versucht, wird ihr nicht nur eine Handelsvertreterinnenkarriere im Miederwarenbusiness verbauen. Sondern auch die Hochzeit mit dem Polizisten und Karrierespießer Alfons Klostermeyer scheitert. Am Ende des Stücks entzieht sich Elisabeth dem behördlichen Dauerzugriff durch Suizid.

Christoph Marthalers Inszenierung, die bereits im Juni bei den Wiener Festwochen Premiere hatte und nach Stationen in Zürich und Paris jetzt in der koproduzierenden Berliner Volksbühne angekommen ist, multipliziert diesen Niedergang. Auf Anna Viebrocks Bühne, die mit gewohnter Stilsicherheit die Behördenarchitektur der fünfziger Jahre zitiert, schickt der Regisseur gleich zwei Protagonistinnen in die Spur. Die Auftaktszene des Stückes – Elisabeths Dialog mit dem Leichenpräparator (Jean-Pierre Cornu) – wird so zu einem Wortgefecht in Endlosschleife. Erst bietet eine tendenziell eher forsche Elisabeth in Gestalt von Olivia Grigolli ihren Körper erfolglos der anatomischen Wissenschaft feil. Dann wird der Präparator in der gleichen Angelegenheit noch einmal von einer vergrübelteren, sorgenfaltenreicheren Elisabeth-Variante (Sasha Rau) aus dem Labor geklingelt. Wenn am Ende des Stückes ein „tollkühner Lebensretter“ die lebensmüde junge Frau aus dem Wasser zieht, bevor sie auf dem Polizeirevier endgültig stirbt, werden sogar fünf Elisabeths auf die Bühne getragen.

Theoretisch ist Marthalers Motivation, den Abwärtstrend einerseits zu entindividualisieren und andererseits zu vervielfachen, natürlich absolut nachvollziehbar. In der Bühnenpraxis bleibt er trotzdem gewöhnungsbedürftig. Dass es – ganz im Gegensatz etwa zu Marthalers Gretchen-Vielfachbesetzung im legendären „Wurzel-Faust“ von 1993 – hier eher hölzern wirkt, wenn die beiden Elisabeth-Darstellerinnen sich auf offener Szene abwechseln: geschenkt. Der weitaus problematischere Preis für die Verallgemeinerung der zentralen Figur ist die nunmehr leere Stückmitte. Weil die junge Frau nicht Akteurin, sondern Opfer des Geschehens ist, sieht die Regie auch nicht vor, aus der Unterschiedlichkeit der beiden Schauspielerinnen überbordendes szenisches Kapital zu schlagen. Und so sehr es einleuchten mag, dass beide Elisabeth-Varianten stattdessen betont projektionsflächenhaft und profilarm agieren, so real sind dann eben auch die Endloswiederholungen, Längen und kalkulierten Leerläufe, denen man sich als Zuschauerin und Zuschauer an diesem dreieinhalbstündigen Abend ausgesetzt sieht.

Sichtbar werden logischerweise die Anderen, jene durch und durch halbseidenen Gesellschafter, die Elisabeths Untergang befördern: Bettina Stucky erfreut als selbstsichere Miederwarenunternehmerin Irene Prantl, die sexuelle Anzüglichkeiten auf Augenhöhe mit dem Patriarchat restlos wegzufeixen versteht. Und Irm Hermann erwehrt sich als „Frau Amtsgerichtsrat“ in einer großartigen Tanzszene der sabbernden Übergriffe ihres gewichtigen, grotesk blond gelockten Gatten (Josef Ostendorf). Überhaupt betont Marthalers Horváth-Lesart – sozusagen ein unangestrengter Beitrag zur Frauenquotendebatte – die fatale Nähe von Miederwaren, weiblichen Leichen, Moral- bzw. Gesetzeshuberei und exkludierender Männerbündischkeit. Sogar um den Preis, dass die Patriarchatsvertreter hier für Marthaler-Verhältnisse momentweise ungewöhnlich hart an der Klischee-Oberfläche surfen.

Unter den zahlreichen Passagen aus anderen Horváth-Texten, die der Regisseur in seine Inszenierung implantiert, findet sich zum Beispiel auch eine vom Pianisten und nebenberuflichen Geisterorchesterdirigenten des Abends gehaltene Rede, die streberhaft den „internationalen Kongress zur internationalen Bekämpfung des internationalen Mädchenhandels“ heraufbeschwört. Ähnlich wie in Loriots Erwin-Lindemann-Nummer endet der Vortrag nach einigen interessanten Sprachverstrickungen glorios bei der „Bekämpfung des internationalen Mädchens“.

Unter den Horváth-Inszenierungen, die der Entschleunigungskünstler Marthaler bisher vorgelegt hat, ist dieser „kleine Totentanz in fünf Bildern“ sicher der am radikalsten entschleunigte, leiseste und spaßärmste – wiewohl die Unterhaltungsverweigerung durchaus noch konsequenter hätte ausfallen können. Bei der Wiener Premiere gab es dafür dem Vernehmen nach deutliche Buhs. An der Volksbühne, wo Marthalers Triumphzug 1993 mit „Murx den Europäer“ begann, endete der Abend mit Bravorufen.

Wieder heute und am 16. Oktober.

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