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Kultur: Die ewige Kaderschmiede

1968 begann hier der Marsch durch die Institutionen. Heute will das Otto-Suhr-Institut Eliteschule sein. Was hat sich verändert?

Im klaren, blauen Winterhimmel kreischen die Raben, von den Dahlemer Villen bröckelt der Putz. Auch die Plakate an den Bäumen wirken, als stammten sie aus einer anderen Zeit. „Anarchie in Geschichte und Gegenwart“ – es gibt hier nicht mehr viele Studenten, die sich dafür interessieren. Wer heute in Kapuzenshirt oder Jackett an der U-Bahnstation Thielplatz aussteigt, hat oft nur ein Ziel: schnell und effizient zu studieren. Das Otto-Suhr-Institut, kurz „OSI“ genannt, ist eine gute Adresse für ehrgeizige Politologen geworden. „Glückwunsch, ihr seid an dem Institut, das im Focus-Ranking den ersten Platz gemacht hat“, so begrüßt man hier seit neustem die ersten Semester.

Dass einer der Professoren, Peter Grottian, vorletzte Woche bei den Demonstranten gegen die Hartz-Reformen in einem Berliner Arbeitsamt auftrat und sich zu Wort meldete, passt nicht in das Bild der neuen Elite-Schule. Grottian solle bloß aufpassen, sagte dann auch ein Politiker, er sei Beamter und für Beamte gelte Demonstrationsverbot. Doch Grottian sieht das anders. Er pocht auf seine Vorstellung vom „im doppelten Sinne anstößigen Wissenschaftler“. Der Demonstrant Grottian verkörpert das alte OSI, eine Hochschule, in der alle großen gesellschaftlichen Debatten der 68er als theoretischer Stellvertreterkrieg geführt wurden.

Als er an das Institut berufen wurde, war es die Hochburg der westdeutschen Linken, ein Mythos, der den Mauerfall allerdings nur kurz überlebt hat. Ab Mitte der 90er Jahre war das Gebäude in der Ihnestraße kein Basislager mehr für den Marsch durch die Institutionen. Die Osianer, die bis heute in allen Institutionen, Gewerkschaften, Parteien und Bildungseinrichtungen der Bundesrepublik zu finden sind, galten als sozial engagierte Spezialisten, für die die Erwerbswelt leider keinen Platz mehr hatte. Fragt man Sven Gösmann, den Politikchef der „Bild“, was er von seinem OSI- Studium im Job gebrauchen kann, sagt der trocken: „Wenn so ein berühmter französischer Philosoph wie Jacques Derrida stirbt, bin ich der einzige in der Redaktion, der weiß, wer das eigentlich war.“

Nachmittags, im Institut: Thomas Risse sitzt in seinem aufgeräumten Büro. Die dunklen Haare sind glatt gefönt, er trägt ein rosa Hemd, darüber einen dunklen Pullover mit V-Ausschnitt. Vor seiner Bibliothek steht eine kleine, graue Metallleiter. Die meisten Titel sind auf Englisch. „Global Governance“ steht auf dem Buch, das auf seinem langen Holzschreibtisch liegt.

Risse wurde 2001 aus Bologna nach Dahlem berufen. „Gewöhnungsbedürftig“, fand der 49-jährige Professor seine erste Zeit. „Sie müssen verstehen, wenn man von außen kommt.“ Dieser spezifische Diskurs. Da habe man immer noch Streits geführt, „die woanders schlicht nicht geführt werden“. Wenn Risse woanders sagt, meint er meistens Amerika. Cornell, Yale und Wyoming – dort hat er die transatlantischen Beziehungen erforscht. In Dahlem haben die Studierenden seine Teilnehmerlisten als Repression empfunden. Risse schüttelt den Kopf. „Allen Ernstes.“ Die antiautoritäre Tradition des OSI ist berühmt.

1967, nachdem der Student Benno Ohnesorg auf einer Demonstration erschossen worden war, hatten sich am OSI sofort „Ad-hoc“-Gruppen gebildet. Sie kämpften für mehr Demokratie, für Partizipation und gegen die Notstandsgesetze. Und sie setzten durch, dass das OSI sich als erstes deutsches Universitätsinstitut eine Verfassung gab, derzufolge auch Studenten und Assistenten in den Entscheidungsgremien mitbestimmen konnten. „Ein dialektisches Produkt von Reform und Revolution“ nannte der Politologe Gilbert Ziebura dieses Gesetz aus dem Jahre 1968. Man entschied selbst, was man lernen wollte. Aber vielen war das nicht genug. Linke Gruppen versuchten, ihr Mitbestimmungsrecht weiter auszuweiten, forderten autonome und marxistische Forschungseinheiten und plädierten schließlich für die komplette studentische Selbstbestimmung. Alexander Schwan, der Institutsdirektor, wollte da nicht mitmachen und geriet zwischen die Fronten: Auf der einen Seite standen die Liberalen, auf der anderen die Radikalen. Das OSI hatte keine Mitte mehr. „Institut am Scheideweg“, „Neue Krise“, „Zwischen Elfenbeinturm und Politik“, titelten die Zeitungen. Das ist mehr als 30 Jahre her. Doch manchmal hat man das Gefühl, das OSI habe seine Mitte noch immer nicht gefunden.

Thomas Risse, der sich gerne im Anzug in der neuen mintgrünen Cafeteria sehen lässt, war in einem Biotop angekommen, und er wollte es umstülpen. Sehr schnell, sehr radikal. Scheint, als würde das OSI solche Menschen anziehen. Risse stieß auf Widerstand. „Strukturkonservativ“ hätten Kollegen wie Grottian argumentiert, als er ihnen von „komplett international kompatiblen“ Studiengängen erzählte, die ihm für das OSI vorschwebten. Aber Risse hat sich durchgesetzt. Er ist inzwischen Dekan. Der „Master Internationale Beziehungen“ und der „Bachelor Politikwissenschaft“ sind eingeführt und bei den Studenten heiß begehrt. Kolumbus hat die neue Welt mitgebracht. Verschwindet nun die Alte? Und ist das wirklich schlimm?

1949, kurz nach der Gründung der Freien Universität, wurde die „Deutsche Hochschule für Politik“ als autonomes Institut gegründet. In den ersten Jahren stand die Vermittlung von „Politik als Wissenschaft“ im Vordergrund, Lehrer, Verwaltungsangestellte und Politiker sollten hier studieren. „Der Aufstieg der Nazis war auch ein Mangel an politischer Bildung“, sagte der Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter bei der Eröffnung. Unter Otto Suhr, dem ersten Direktor, wurden viele ehemalige Widerständler und Regimegegner berufen: Carl Dietrich von Trotha, Gert von Eynern, Otto Heinrich von der Gabelentz. Später kamen jüdische Emigranten wie Ossip K. Flechtheim, Richard Löwenthal und Ernst Fraenkel an das OSI und arbeiteten daran, Politikwissenschaft als eigenständige Disziplin in Deutschland zu etablieren. Zu den Liberalen und Linken, die im Rahmen des neu geschaffenen parlamentarischen Systems dachten, kamen in den 70er Jahren jene, die das System in Frage stellten. Sie setzten sich bewusst vom „bürgerlichen Mainstream“ ab. Heute sind sie alt. Elmar Altvater, eine internationale Koryphäe der Marxforschung, wurde kürzlich emeritiert.

An der Tür zu seinem Büros hängt noch eine Computergrafik. Darauf befindet sich sein schmaler Kopf neben den Köpfen von Marx, Engels, Lenin. „Die Philosophen reden nur über Globalisierung. Wir verändern sie“, steht darunter. Seine Studenten haben es dort angebracht. Altvater hat das sehr gerührt.

Er lehnt sich in den Sessel, auf dem Tisch liegen Papierstapel und aufgeschlagene Bücher, manche Stellen sind markiert. „Marxismus war 1970 theoretisches Neuland“, sagt er. In einem Wandregal biegt sich das Holz unter den schweren, blauen Bänden. Die Studenten kamen sogar am Wochenende, um sich von Altvater den Doppelcharakter der Ware erklären zu lassen. Ein Trend. Linke Seminare erhielten einen großen Zulauf. Wolf-Dieter Narr oder Johannes Agnoli waren Lehrer, die einen mitrissen. Agnolis Theorien der sozialen Bewegungen hatten großen Einfluss in der Bundesrepublik. Ihre Visionen endeten nicht am Schreibtisch. „Darin sehe ich überhaupt das Geschäft, auf das ich mich schon seit längerer Zeit einlasse, die Politik theoretisch und soweit wie möglich auch praktisch zu kritisieren“, sagte Agnoli, als er 65 Jahre alt war. Auch Altvater und Peter Grottian zitieren ihn gern, um ihre Intentionen zu erklären. Die Theoretiker des OSI wollten ihre Theorien immer auch umsetzen.

Als die Arbeit in Deutschland knapp wurde, versuchte Peter Grottian ein Teilzeitmodell einzuführen, das am Institut Arbeitsplätze schaffen und gleichzeitig die Probleme der Massenuniversität entschärfen sollte, den Lehrkräftemangel und die überfüllten Seminare. Dass einer wie Grottian heute für die auf die Straße geht, die schon lange keine Arbeit mehr haben, ist da nur konsequent. Dass er damit auch gegen die Grünen protestiert, die die Reformen mittragen, zeigt, wie die Zeiten sich 25 Jahre nach der Gründung dieser Partei geändert haben. Grottian fühlt sich am eigenen Institut manchmal ziemlich allein. „Hier wird nicht mehr debattiert, es ist alles wie tot“, sagt er. Auch Altvater schaut einen besorgt an, wenn die Rede auf das neue OSI kommt, ein trauriger Zug huscht über sein vom letzten Südamerikatrip noch gebräuntes Gesicht. Für kritisches Denken bleibe beim neuen „Korsett“ der strengen Regelstudienzeit „gar kein Raum“ mehr. Utopien würden auf dem Weltmarkt nicht gehandelt, sagt er. Und schon gar nicht an einer Uni, „die dort zur ersten Liga gehören will“. Aber liegt das OSI damit nicht schon wieder im Trend?

Die Bundesbildungsministerin fordert die „konsequente Umsetzung des Bologna-Prozesses“, und der zwingt zur Anpassung der Bachelor- und Masterstudiengänge in ganz Europa. Wenn heute in Deutschland von Bildung gesprochen wird, fallen oft Begriffe wie Wettbewerb und internationale Konkurrenz. Deutschland will Elite, nicht den Klassenkampf.

Attac, sagt Altvater, sei auch Zeitgeist. Er gehört zu den Gründern der globalisierungskritischen Organisation. Und glaubt, die Studenten hätten ein Bedürfnis nach alternativen Theorien. Doch fragt man die Studenten in der Raucherecke des Instituts, was sie richtig wütend macht, zucken die mit den Schultern. Politologe ist ein Karriereberuf geworden. Erfahrene Politikberater werden überall gesucht, Unternehmen schätzen Politikwissenschaftler, wenn sie flexibel sind und schon zehn Praktika in fünf Ländern absolviert haben.

Doch Karriere und Engagement schließen sich ja nicht prinzipiell aus, findet Annabelle Merklin, 20. Etwas machen, sich einsetzen, das wolle sie schon. Bloß nicht bei Attac. „Ich bin nicht so megalinks“, sagt sie. Kaum jemand ihrer Kommilitonen verfolge so radikale Positionen wie Altvater. Vielleicht tritt sie irgendwann mal einer Partei bei. Annabelle Merklin, die aus Freiburg nach Berlin kam, hat den erforderlichen Numerus Clausus von 1,4 geschafft. Sie war während der Schulzeit in den USA, und nun will sie ihr Französisch auffrischen, für ein Semester an einer Pariser Spitzenschule. Die Kooperationen sind längst besiegelt, auch mit Washingtoner oder Moskauer Eliteschulen. Annabelle Merklin vermisst nichts. Denn sie kennt es nicht anders. 1968, für sie ist das so weit weg wie die Kaiserzeit. Man hat ihr von Altvater und dem OSI-Mythos erzählt, der so verschiedene Menschen wie Walter Momper, Peter Radunski, Verdi-Chef Frank Bsirske (ein Altvater-Absolvent) oder DGB-Chef Michael Sommer angezogen hatte. Sogar Helmut Kohls ehemaliger Berater Horst Teltschik saß in Dahlem im Hörsaal. Sie alle wollten, irgendwie, was verändern. Über Gesellschaft nachdenken. Beteiligt sein an gesellschaftlichen Prozessen. Das ging gut, an einem Ort, der so vielfältig wie widersprüchlich war, an dem man praktisch gezwungen wurde, selbstständig zu arbeiten, einen roten Faden zu finden, im Chaos der Theorien.

Bela Anda, OSI-Absolvent und heute Regierungssprecher, erinnert sich: „Ein für seine marxistischen Lehren bekannter Professor lud uns Studenten zu einer Party in seine Wohnung an den schicken Savignyplatz ein. Einige Autonome nahmen seine Lehren wohl zu ernst, stürmten das Fest und verlangten: Essen für alle.“ Für Anda ein Bespiel dafür, wie der eigene Anspruch und die Realität mitunter stark auseinander klafften.

Mit der Wende 1989 hatte das Utopische seine Schlagkraft verloren. Man merkte auch am OSI, dass die gesellschaftliche Wirklichkeit sich nicht von der Theorie her umdirigieren ließ, auch wenn sich das so niemand eingestehen wollte. Dass man selbst auch mit linken Intentionen gescheitert sei, hat damals niemand gesagt, erinnert sich OSI-Professor Ulrich Albrecht. So wie der Marxismus in der DDR real existierte, als diktatorischer Staatssozialismus nämlich, hatte man sich Gesellschaft nicht vorgestellt. Marx stand für die Befreiung des Menschen vom politischen und ökonomischen Zwang. Irgendwas war das schief gelaufen. Doch was? Die Debatte mit den Ostkollegen, die man traf, um über einen Dritten Weg zu diskutieren, versandete daher schnell. Die einen versuchten, Marx ins 21. Jahrhundert zu retten, ihn gegen die missglückte Umsetzung seiner Theorien zu verteidigen. Die anderen suchten einen neuen Job. Man fand keine gemeinsame Sprache. Das OSI schien nur noch mit sich selbst beschäftigt zu sein.

„Auf internationalen Konferenzen hat man mich mitleidig betrachtet, wenn ich sagte, wo ich lehre“, sagt Barbara Riedmüller. So, als sei sie vollkommen weltfremd. Das OSI hatte nicht nur den multikulturellen Diskurs an sich vorbeiziehen lassen (angeblich mangels Sprachkenntnissen), auch der Poststrukturalismus und Foucaults Machttheorien kamen an lange nicht vor. „Wir standen immer als Weltverbesserer da, aber das Belehrende wollen wir jetzt abschütteln“, sagt die langjährige Professorin und frühere Senatorin für Wissenschaft und Forschung in Berlin. Mehr Terrain, mehr Präsenz, Politikberatung, Governance, Spitzenforschung – Schlagworte der Zukunft. Es sei „Legendenbildung“, dass die neuen, gestrafften Studiengänge kritische Reflexion ausschließen. „Wir machen jetzt eben nicht mehr l’art pour l’art.“ Statt dessen moderne Politikwissenschaft, der Nutzwert steht im Vordergrund. Wenn auch mit begrenztem Personal. Von einst 30 Professuren hat das OSI heute noch knapp die Hälfte. Die Stellen für historische Grundlagen, Afrika und internationale Ökonomie fallen weg. „Das OSI drückt seine eigenen Kapazitäten an die Wand“, klagt deshalb Peter Grottian.

Scheint, als habe die Ökonomisierung der Gesellschaft auch vor dem OSI nicht Halt gemacht. Es kommt nicht mehr darauf an, die Welt zu verändern, es reicht, sie zu durchschauen. Seminare über Kampagnenplanung, politische Beratung und Kommunikation, wo man lernt, Netzwerke zu knüpfen, sind hoffnungslos überfüllt. Auch morgens um halb acht.

Maxi Leinkauf

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