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Kultur: Die Gerichtsreportagen von Gabriele Tergit waren eher Literatur als Journalismus. Jetzt liegen sie als Buch vor

Was über den Tag hinaus Gültigkeit hat und entsprechend in Zeitungen geschrieben wurde, ist dem Journalismus entwachsen und darf Literatur genannt werden. Gabriele Tergit (1894 in Berlin geboren, 1982 in London gestorben) war eine derart Entwachsene.

Was über den Tag hinaus Gültigkeit hat und entsprechend in Zeitungen geschrieben wurde, ist dem Journalismus entwachsen und darf Literatur genannt werden. Gabriele Tergit (1894 in Berlin geboren, 1982 in London gestorben) war eine derart Entwachsene. Sie schrieb zwar in Zeitungen, vornehmlich im "Berliner Tageblatt", aber sie schnitt den Stoff so zu, dass er Literatur wurde. Ihre Berliner Gerichtsreportagen der Zwanziger und ersten Dreißiger Jahre liegen uns jetzt als Buch vor. Rundheraus und gleich hier oben: Dem Verlag Das Neue Berlin ist dafür zu danken.

Gabriele Tergit ist vielen als die "Käsebier"-Autorin ein Begriff. Das ist ein Roman. Gabriele Tergit als Gerichtsreporterin ist ein Glücksfall. Ein äußerst seltener zudem. Sie hat dieses allerschwerste Genre journalistischer Alltäglichkeit, die Gerichtsreportage, zur Kunstform gebracht. Das gelingt nur dem, der mit reifer Menschenliebe, die nichts Blaues im Auge haben muss, in die menschlichen Abgründe und Abgründeleien zu blicken vermag. Wem es dann nicht die Sprache verschlägt, der taugt hierfür. Anders als all die vielen, denen es ihr bissel Sprache verschlägt, die sich deshalb in Schwatzhaftigkeit flüchten, die sprachlichen Geiltriebe schießen lassen und die Länge ihrer Epistel schon für gute Artikel halten. Gabriele Tergits Reportagen sind kurz, selten länger als anderthalb kleine Buchseiten. Darin steht alles. Da stehen Menschen vor Gericht, denen die Reporterin gerecht wird, weil ihr nichts Menschliches fremd war. Sie kannte das Leben und demzufolge ihre Pappenheimer. Sie übte Gerechtigkeit auch gegen das Gericht. Und sie langweilt uns nicht mit teigigen Verfahrensabläufen. Nur Unbeholfene kneten da herum.

Sehr lang, sehr anders hat sie geschrieben, wo es nicht mehr um die ganz gewöhnlichen Gaunereien ging, sondern um die tiefsten Abgründe, um die Nazischweinereien, die sich am Ende der Dreißiger schon abzeichneten. Der Band endet mit dem, was dann ja Wirklichkeit war, mit dem skandalösen Freispruch des Brüderpaares Maurer im Jahre 1966, der "Judenmörder von Stanislaus". Dies in das Reportagebuch aufzunehmen, ist man Gabriele Tergit schuldig.

Pläsierlich ist aber - wie gesagt - all das, was zur Fehlbarkeit des Menschen gehört. Zum Beispiel dann, wenn die Schauspielerin Maria Paudler wegen einer allzu forschen Fahrweise und damit einhergehender leichter Blessur eines radelnden Briefträgers vor Gericht erscheinen mußte. Sie hatte den zu Fall gebrachten Radler anschließend in die Arme genommen, um ihn zu trösten. Am Unfallort. Frau Tergit schrieb: "Der Postbeamte, der für die Umarmung leider nicht das richtige Verständnis hatte, trug Quetschungen davon." Und der Schluss: "Das Gericht verband Gerechtigkeitssinn mit Courtoisie und sprach Maria Paudler frei."

Frei kam auch Alfred Döblin. Er hatte in einem literarischen Text seinen Zahnarzt angeschwärzt. Ohne Namensnennung. Der klagte. Es endete mit Freispruch: "Ein Schriftsteller kann seinen Stoff nur aus seiner Umwelt nehmen und hat dabei Wiedergabefreiheit." Merkt euch das, ihr Zahnärzte und Manager! Dazwischen finden sich aber viele Gaunereien und Ferkeleien, die bei Justitia keineswegs alle mit Freispruch endeten. Und nicht in jedem Falle war Courtoisie mit dem Strafgesetzbuch in Einklang zu bringen. Immer aber, so sehe ich es, zeigt uns Frau Tergit, das ein irdischer Richtspruch nur die erste Instanz ist - in der letzten sind wir alle auf gleichem Niveau.Gabriele Tergit: Wer schießt aus Liebe? Gerichtsreportagen. Mit einem Vorwort von Jens Brüning sowie historisch erläuternden Schlussanmerkungen. Verlag Das Neue Berlin, 1999. 206 Seiten, 24,90 Mark.

Ekkehard Schwerk

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