Kultur: Die große Erregung
Späte Würdigung eines Schmuddelkinds: Wien widmet dem umstrittenen Aktionskünstler Otto Muehl drei Ausstellungen
Es mag sonderbar klingen, wenn man über eine Vernissage, bei der sich mehr als 2000 Menschen drängelten, sagt, es wäre niemand da gewesen. Und doch war es so. Als Peter Noever, der Direktor des Wiener Museums für Angewandte Kunst (MAK), die Ausstellung des Gesamtwerks von Aktionskünstler Otto Muehl eröffnete, fehlten trotz allem Gedrängel die Prominenten. Zum Beispiel der Künstler: Aufgrund seiner schweren Parkinsonkrankheit sitzt der 79-Jährige im Rollstuhl und erschien nicht bei der Eröffnung.
Und, Überraschung!, kein Politiker zeigte sich. Weder der omnipräsente Wiener Bürgermeister noch sein Kulturstadtrat. Sogar der zweite Nationalratspräsident Heinz Fischer, der die Schau mit einer Leihgabe aus seiner Sammlung unterstützt hatte, wagte sich nicht ins MAK. Die Anwesenheit vor TV-Kameras und Fotografen war ihm offenbar zu heiß, zu problematisch – schließlich bewirbt sich Fischer zurzeit um das Amt des österreichischen Bundespräsidenten. Dabei als Muehl-Liebhaber ausgemacht zu werden, ist nicht gerade opportun.
Lange Jahre war es in Wien still gewesen um den Aktionisten Otto Muehl, der mittlerweile mit wenigen Getreuen zurückgezogen in der Nähe von Faro im Süden Portugals lebt. Und wenn sich nicht gerade ein Journalist in seine Umgebung verirrt hat, war von Muehl nichts zu hören. Doch das hat sich gründlich geändert. Seit dieser Woche befassen sich in Wien mehrere Ausstellungen mit dem Künstler. Die größte davon, „Otto Muehl. Leben/Kunst/Werk. Aktion Utopie Malerei 1960–2004“ mit 480 Arbeiten, zeigt das MAK. Die Galerie Krinzinger konzentriert sich auf das Spätwerk, und die Galerie Charim zeigt ab Mitte Mai Arbeiten aus den Achtzigern, vorwiegend Grafiken, Malereien und Aquarelle. Auch wenn es niemand explizit sagt: Offensichtlich dient die konzertierte Aktion dazu, Muehl als Künstler abseits aller gesellschaftspolitischen und juristischen Vorwürfe zu rehabilitieren. Schließlich war er einer der Protagonisten des Wiener Aktionismus. Manche meinen: der souveränste.
Doch kann das gelingen? Wohl kaum. Gut: Die MAK-Ausstellung ist weitgehend harmlos, nicht zuletzt, weil Etliches fehlt. Zwar will sie das Gesamtkunstwerk beleuchten, doch Muehls Kommunenphase in den Siebziger und Achtzigerjahren wird nur verschämt gestreift. Aus dieser Zeit sind nur ein paar Dokumentationsmaterialien zu sehen, etwa Anleitungen zur „Selbstanalyse“ für die Kommunarden, außerdem die Cover einiger Kommunenzeitschriften. Dazu kommt eine Reihe von Siebdrucken, die wie eine illustrierte Hausordnung wirken; sie verdeutlichen das strenge hierarchische Regelwerk der Muehl-Kommune.
Stattdessen werden die Aktionen der Sechzigerjahre in epischer Breite in Fotos und Filmen gewürdigt – vor allem die Materialbilder und Aktionsmalereien von 1962/63, die einen wesentlichen Beitrag zur neueren österreichischen Kunstgeschichte darstellen. In einem eigenen Bereich, gleich rechts vom Eingang, sind Muehls jüngere Arbeiten zu sehen: „Electric Paintings“, also Computeranimationen der eher schlichteren Machart. Darunter fallen auch die simplen Darstellungen gefräßiger Haie, mit denen sich Muehl gegenwärtig die Zeit verkürzt. Den Darstellungen natürlich, nicht den Haien selbst.
Schon lange bevor die Ausstellungen nun ihre Pforten eröffneten, erinnerten die österreichischen Feuilletons an die Muehl-Geschichten von damals. An die Kommune-Ära und vor allem den Kindesmissbrauch, für den Muehl 1991 zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt worden war. In der „Zeit“ verteidigte der Aktionist und einstige Sexprotz seine Verbindung von Kunst und Lebensexperiment nun erneut als gesellschaftlichen Kampf: „Die Zweierbeziehung zum Beispiel halte ich für vorbei, das ist eine richtige Knechtschaft, insbesondere für die Frau.“ Worauf der „Spiegel“ mit neuen Vorwürfen ehemaliger Kommunarden nachlegte.
Die alten Geschichten sind wieder auf dem Tapet: 1970 hatte Muehl in der Wiener Praterstraße eine Kommune gegründet, die sich anfangs als Auffangbecken für Künstler und gestrandete Existenzen verstand. Schon bald wurde dort die freie Sexualität samt wechselnden Partnern zur Norm erklärt. Kahl geschoren und mit Latzhosen zogen die Kommunarden durch Wien; mit Schnullern bewaffnet, demonstrierten sie ihren Ausstieg aus der Erwachsenenwelt – die Gruppe wuchs rasch. 1972 emigrierte die Kommune ins Burgenland und bewohnte einen Bauernhof, wirtschaftlich abgesichert durch ein weit verzweigtes Firmenkonglomerat.
Aus der zunächst chaotischen Gruppierung wurde allmählich eine Dorfgemeinschaft, die sich von der Schulbildung bis zur Ernährung um alles kümmerte. Otto Muehl war ihr uneingeschränkter Souverän. Er kontrollierte alles, auch auf sexueller Ebene: wer mit wem schlafen durfte und sollte, wer schwanger werden durfte und wer nicht, und ob die Frauen ihre Kinder selbst aufziehen durften oder nicht. Ausgenommen davon war der Meister selbst, der in der strengen Gesellschaftsordnung der Kommune als unumschränkter Alleinherrscher regierte. Die Kommune zerfiel in den Achtzigerjahren; das endgültige Aus kam 1991, als Muehl wegen Unzucht mit Minderjährigen, die es in der Kommune ebenfalls gab, von einem österreichischen Gericht ungewöhnlich hart bestraft wurde.
All das ist jetzt wieder omnipräsent und war im Vorfeld des Ausstellungsreigens nicht nur Anlass für mediale Erregungen, sondern auch für politische Querelen. Sogar im Kulturbetrieb eher verhaltensunauffällige Geister wie der FPÖ-Politiker Eduard Mainoni, im Hauptberuf Geschäftsführer einer Wach- und Schließgesellschaft, fühlten sich bemüßigt, gegen die Muehl-Ausstellung zu polemisieren. Sie gehöre gestoppt, so Mainoni, allein schon aus Respekt vor den Opfern Muehls. Andere konservative Politiker folgten seinem Beispiel, weshalb sich die Gäste der Vernissage im Museum für angewandte Kunst in einem Hochsicherheitstrakt wähnten. Überall Security-Vertreter, am Einlass gab es Taschenkontrollen, Besucher wurden mit Metalldetektoren abgetastet. Und die Fotografen mussten ihre Kameras aufschrauben, um zu beweisen, dass sie keine Waffen bei sich tragen. In früheren Zeiten an einem anderen Ort wäre allein das schon ein aktionistisches Event gewesen.
Eine eigene Ausstellungs-Abteilung bilden übrigens die Porträts. Eine Zeit lang versuchte Muehl nicht nur die Gesellschaftsordnung, die er ablehnte, mit dem Gegenentwurf einer Kommune in Frage zu stellen, sondern die Repräsentanten dieser „Wichtelgesellschaft“, wie er sie nannte, auch künstlerisch zu entlarven. Das Ergebnis waren bunte Pop-Art-Bilder von Charles de Gaulle bis Ho Chi Minh samt einiger österreichischer Staatsmänner. Für jüngere Besucher wird diese Sektion zur skurrilen Zeitreise. Eine ähnlich anachronistisch-skurrile Tour ist die ganze Ausstellung – samt der Aufregung um sie herum.
Museum für Angewandte Kunst, Wien, bis 31. Mai; Katalog 44 €. Galerie Krinzinger: bis 8. April. Galerie Charim: 19. Mai bis 31. Juli
Markus Huber