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Charlotte Rampling in Laurent Cantes „In den Süden“.

© Alamode

Berlinale-Ehrenbär für Charlotte Rampling: „Die Kameralinse hat etwas Magisches“

Sie bekommt den Goldenen Ehrenbären: Charlotte Rampling über Skandalfilme, Frauen mit tiefen Stimmen – und warum sie nichts zu MeToo sagt. Ein Interview.

Wir treffen uns in Charlotte Ramplings Wohnung im 16. Arrondissement, einer weitläufigen Pariser Altbauwohnung. Sie zieht gerade um, mehr ins Zentrum, sagt sie. Weiße Flecken an den Wänden, ein Gemälde des niederländischen Neorealisten Mark Brusse hängt noch. Mit dem Sammeln zeitgenössischer Kunst hatte Rampling mit dem Musiker Jean-Michel Jarre begonnen, ihrem Ehemann von 1976 bis 1996. Sie malt auch selbst. Rampling zeigt mir eins ihrer Bilder, ein länglicher, Giacometti-ähnlicher Alien auf schwarzem Grund, komisch und melancholisch. Im Oktober hat sie in London ihre erste Ausstellung. Rampling bittet mich auf ihr Sofa, sie nimmt am anderen Ende Platz.

Madame Rampling, in den Zimmern hier stehen lauter kleine Boxen für den Umzug, mit offenen Deckeln. Fühlt man sich so als Schauspielerin: wie eine leere Kiste, in die andere etwas hineintun?

Es ist am Anfang jedes Mal ein unangenehmes Gefühl. Ich kann ja meine Physiognomie nicht ändern. Ich bin immer ich, und dieses Ich muss ich abziehen wie eine Haut.

In Viscontis „Die Verdammten“, der auch in der Hommage der Berlinale läuft, sitzen Sie als atemberaubend schöne junge Baronin vor dem Schminkspiegel. Wer waren Sie da, vor über 50 Jahren?

Da war immer diese Stärke, eine Geisteshaltung, eine große Präsenz. Meine Filme sind meine visuelle Biografie, schon bei meinem ersten Film – nein, bei dem nicht, das war eine britische Komödie, in der ich diese schrecklich hohe Stimme habe –, aber bei „Georgy Girl“, meiner ersten Hauptrolle, sah ich plötzlich etwas von meinem Wesen. Ich machte mir nicht klar, wie schön ich war, wie begabt, wie gescheit, denn ich war misstrauisch: Bloß nicht übermütig werden, denn dann kommt die böse Fee. Du denkst, du bist schön? Zack, jemand zerstört dein Gesicht.

Visconti hatte den Ruf, ein Tyrann zu sein. Wie haben Sie ihn erlebt?

Ich habe sogar eine Weile bei ihm gewohnt. Ich war mitten in der Nacht aus meiner kleinen Pension in Rom geflogen und als Visconti mich mit meinem großen Koffer im Filmstudio sah, meinte er, ich solle mit zu ihm kommen. Seltsamerweise hat mich nie jemand ernsthaft eingeschüchtert. Visconti engagierte mich, er wollte mich für die Rolle, warum sollte ich Angst haben? Er war der erfahrene Regisseur, ich die junge Schauspielerin, aber eines Tages würde ich doch genauso erfahren sein. Die Gesellschaft funktioniert so, über Kontrolle und Macht, aber es ist falsch, dass Menschen einander einschüchtern. Wenn Leute sagen, es würde sie einschüchtern, dass ich berühmt bin, empfinde ich das fast als Beleidigung.

Zur Preisverleihung läuft Ihr kontroversester Film, „Der Nachtportier“ von Liliana Cavani, die Liebesgeschichte zwischen einer Holocaust-Überlebenden und ihrem KZ-Wärter.

Es ist ein emblematischer Film. Im Leben jedes Schauspielers gibt es ein, zwei davon. Ich kam wegen eines gerade abgedrehten Films unvorbereitet ans Set und als Erstes drehten wir die Tanzszene ...

... in der Sie mit nacktem Oberkörper vor NS-Soldaten singen: „Wenn ich mir was wünschen dürfte“.

Wir sind gleich in den Abgrund gesprungen. Zu viel Bewusstsein ist nicht gut in meinem Beruf, es ist eher wie ein unschuldiges, kindliches Spiel: Ich verkleide mich und erschaffe eine Welt. Vom Holocaust hatte ich nur eine vage Vorstellung und plötzlich spielte ich Szenen im Konzentrationslager. Ich bin Britin, ein Kind der Nachkriegszeit. Man baute das Land wieder auf, der Holocaust war noch kein Thema in der Öffentlichkeit, nicht nur in Deutschland nicht. Für Dirk Bogarde war das anders.

Er spielte den KZ-Wärter und war in seiner Militärzeit bei der Befreiung von Bergen-Belsen dabei.

Er sprach wenig darüber. Wir beide wollten vor allem, dass es weniger ein Film über Schuld ist als über eine unmögliche Liebe. Ich weiß nicht, ob die Frage am Set diskutiert wurde, ob man die Ungeheuerlichkeit des Holocausts überhaupt fiktionalisieren darf. Ich ging immer schnell in meinen Wohnwagen zurück. In einer Szene traten wir nackt an, für die Selektion, da bin ich zusammengebrochen. Aber es hat mich wachgerüttelt, ein für alle Mal. Reinszenierte Geschichte ist eine unglaublich wirkungsvolle Therapie.

Der Film machte Skandal. Wie kamen Sie damit zurecht?

Ich bin eine alte Seele. Auch junge Menschen können alte Seelen haben. Ich war gerade Mutter geworden, wir waren in New York, es gab eine Premierenparty im Ritz oder einem dieser schicken Hotels, Mick Jagger und alle angesagten Leute waren da. Und die Kritiken kamen heraus, lauter Verrisse.

Die große Pauline Kael attackierte Sie im „New Yorker“.

Ich wusste, es würde mich umhauen, also sagte ich, lass uns gehen. Wir ließen die Party Party sein, ich sagte die Interviews ab. So habe ich mich immer wieder gerettet: indem ich rechtzeitig ging.

Im „Nachtportier“ haben Sie plötzlich eine tiefe Stimme, Ihre Stimme.

Ich ertrug meine quäkende Stimme einfach nicht mehr und ging zu dieser wunderbaren Lehrerin, Helen Goss. Die Transformation ging schnell, ich musste nur meine natürliche Höhe finden. Aber sonst probe ich nicht gern, schon am Theater in London mochte ich es nicht. Ich fühlte mich unwohl, bekam schlechte Laune und benahm mich schlecht. Man hatte mich ja ausgesucht, und ich war gut, warum also üben und auf einen Regisseur hören? Ich liebe das Theater, aber es war nicht meins.

Hat es was mit dem Publikum zu tun?

Ja, sie sitzen da, starren mich an, ein Biest im Dunkeln (beugt sich vor und faucht).

Charlotte Rampling in François Ozons "Swimming Pool".
Charlotte Rampling in François Ozons "Swimming Pool".

© Jean-Claude Moireau / Studiocanal

Mit der Kamera ist es anders?

Die Kameralinse hat etwas Magisches. Ich begebe mich mit ihr auf eine mythische Reise, ins Innerste des Inneren, bis zurück ins Paläolithikum. Sie fängt jede meiner Regungen ein.

Das Theaterpublikum tut doch dasselbe.

Aber beim Film bin ich nicht mehr dabei, wenn sie mich anstarren. Ich ertrage das Ausgesetztsein nur bis zu einem bestimmten Grad. Wird es überschritten, explodiert etwas in mir und ich werde zum Vulkan. Vielleicht habe ich deshalb überlebt. Jeder Künstler hat etwas Manisch-Depressives. Wir putschen uns zu Emotionen auf, beleben eine falsche oder künstliche Welt mit unserem Herzblut, sind high, wenn wir arbeiten. Danach fühlt man sich verloren, einsam, fremd. Manche Schauspieler versuchen deshalb, immer high zu bleiben. Ich bin da anders, ich brauche Phasen ohne Stimulation.

Aber Sie bevorzugen die schwierigen Rollen. Ihre Figuren geben sich Blößen.

Ich will meine Zeit nicht verschwenden. Ich möchte mich in einen Charakter vertiefen. Als ich jung war, liebte ich die Heldinnen der Dreißiger- und Vierzigerjahre, Katherine Hepburn, Bette Davis …

… die Frauen mit den tiefen Stimmen.

Sie waren Mannsweiber, aber unglaublich feminin. Sie verschafften sich Gehör, sagten, was sie denken, und wenn sie Rückschläge erlitten, bestärkte sie das nur. In den Sechzigern gab es andere Frauenbilder, aber ich wollte diese Rollen, die etwas in die Welt hinauskatapultieren.

"Ich bin eine Einzelgängerin"

Charlotte Rampling mit Woody Allen in "Stardust Memories".
Charlotte Rampling mit Woody Allen in "Stardust Memories".

© 1980 Metro Goldwyn Mayer Studios Inc. All Rights Reserved

In „Stardust Memories“ von Woody Allen sind Sie Dorrie, die vergötterte Frau. Die Nahaufnahme mit den Jump-Cuts, in der Sie immer wieder fragen „Hast du eine Affäre?“ ist eine ikonische Rampling-Szene geworden.

Woody war auf einem Höhepunkt seiner Regiekarriere. Er hatte sich von Diane Keaton getrennt, freundschaftlich, und er wollte diesen experimentellen Film drehen. Mein zweiter Sohn war gerade zur Welt gekommen, ich sagte ab. Meine Freunde meinten, bist du verrückt, du sagst Nein zu Woody Allen? Er traf dann eine Vereinbarung mit Concorde, und ich flog ständig für zwei, drei Tage hin und her. Keine andere US-Produktionsfirma hätte sich das geleistet: Wenn du in Amerika drehst, steckst du fest, sie sperren dich ein. Die Szene, die Sie erwähnen, ist in der Tat ein magischer Moment. Aber sie entstand im Schneideraum. Der Cutter machte einen Fehler, genau das war es. Eine buchstäblich erschütternde Szene. Fehler sind oft der Ausgangspunkt für große Entdeckungen.

Dorrie ist eine Projektionsfläche für Träume und Begierden. Fällt es Ihnen schwer, Projektionsfläche für die Fantasien der Zuschauer zu sein?

Nein, genau das möchte ich. Ich wollte nie nur jemanden verkörpern. Ich möchte in die Köpfe und Herzen der Zuschauer. Diese Gesichter auf der Leinwand, es packt einen, man fühlt sich verstanden, das ist fantastisch. In „Georgy Girl“ ahnte ich, dass ich dieses Potenzial habe. Nicht für die gesamte Länge eines Films, aber für Momente.

Haben Sie England und Swinging London deshalb verlassen?

Es war schön, als British girl mit den Beatles abzuhängen, aber ich brauchte Europa dafür, die europäische Kultur, die europäischen Geister.

Inzwischen drehen Sie öfter in Hollywood. Sie haben bestimmt Angebote abgelehnt.

In Amerika ist Film ein Riesengeschäft, mehr noch als in Europa. Eine Schauspielerin wie Jennifer Lawrence, mit der ich für „Red Sparrow“ vor der Kamera stand, muss nicht nur eine brillante Schauspielerin sein, sondern auch eine Topmanagerin. Gleichzeitig ist es eine Armee, auch Stars müssen gehorchen, sich unterordnen. Es macht Spaß, kurz dabei zu sein, aber ich könnte nie Teil dieses Systems werden.

Die MeToo-Debatte wollten Sie nie kommentieren, warum nicht?

Der Kampf für Frauenrechte ist wichtig, trotzdem: kein Kommentar. Entweder ich mache mich hundertprozentig für etwas stark oder gar nicht. Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist notwendig, dass Frauen ihre Stimme erheben. Aber ich betätige mich nicht politisch, trete keiner Gruppe bei, bewege mich nicht im Rudel. Ich bin eine Einzelgängerin. Wenn Einzelkämpfer sich einmischen, geht es meistens schief.

Wie bei Ihrer Bemerkung zur OscarsSoWhite-Kampagne 2016? Sie sagten, das sei womöglich Rassismus gegen Weiße, und es gab einen Shitstorm.

Mein Mann war gerade gestorben, ich wurde frühmorgens angerufen und machte diesen unglücklichen Kommentar. Es tat mir sehr leid. Und meine Chancen auf einen Oscar für „45 Years“ waren auch vertan

Rampling mit Tom Courtenay in "45 Years".
Rampling mit Tom Courtenay in "45 Years".

© Agatha A. Nitecka

Gibt es Figuren in Ihren Filmen, denen Sie sich besonders nahe fühlen?

Viele, vor allem Marie in „Unter dem Sand“. Die Neunziger waren eine finstere Zeit für mich. Ich drehte TV-Filme, zog mich aus der Öffentlichkeit zurück, wusste nicht weiter und überlegte, mit dem Filmemachen aufzuhören. Es war gefährlich. François Ozon hat mich da rausgeholt. Wir trafen uns im Café, er war 32, noch ziemlich unbekannt, es dauerte zehn Minuten. Er hatte nur diese Idee. Eine Frau sitzt am Strand, und ihr Mann verschwindet. Und weiter, wollte ich wissen? Das ist die Frage, meinte er. Wie filmt man Abwesenheit? Wir drehen den ersten Teil, dann versuchen wir die Finanzierung zu bekommen, dann sehen wir, was mit der Frau geschieht. Offenbar brauchte ich jemanden, der einfach filmt, mich, Charlotte Rampling.

2015 haben Sie mit Christophe Bataille ein sehr persönliches Buch veröffentlicht, darin geht es um den Selbstmord Ihrer Schwester 1967. Warum jetzt das Buch?

Ich wollte einmal tatsächlich sagen können, was ich empfinde. Ich habe immer geschrieben, Tagebuch geführt, Notizen gemacht, kleine Essays verfasst. Mein erster Versuch, ein Buch daraus zu machen, endete in einer hässlichen juristischen Auseinandersetzung mit der Biografin. Mit Christophe war es wunderbar, wir arbeiteten ohne Druck. Meine Schwester ist schon so lange tot, ich hatte das weggeschoben. Aber es kam immer wieder zu mir. Nicht nur „Unter dem Sand“ handelt ja vom Verschwinden eines Menschen, sondern auch mein nächster Ozon- Film, „Swimming Pool“. Heute weiß ich, dass man sich persönlichen Tragödien immer wieder stellen muss, dass man sie immer wieder aufsuchen muss. Es ist wie die Reinszenierung von historischen Tragödien.

Sie leben seit Jahrzehnten in Paris. Wie geht es Ihnen mit dem Brexit-Chaos?

Es macht mich unendlich traurig. Es dauert ewig, bis das Problem gelöst ist, ich werde es wohl nicht mehr erleben.

Bitte, Ihr Vater wurde 100!

Okay, wenn ich weiter verrückte Filme drehe, schaffe ich das vielleicht auch.

Wie ist es, öffentlich zu altern?

Ich lehne es ab, in eine Beziehung zu meinem Alter zu treten! Ich bevorzuge die freundlichen Spiegel, in denen man die Flecken nicht sieht.

Hat Ihnen je jemand geraten, sich liften zu lassen?

Einer meiner ersten Agenten meinte, ich solle was mit meinen Schlupflidern machen. Ich habe ihn gefeuert. Später hat er es bereut, wir wurden wieder Freunde.

In Denis Villeneuves Science-Fiction-Film „Dune“ spielen Sie bald eine Erdmutter.

Ich bin die Ehrwürdige Mutter Gaius Helen Mohiam! Auch in Paul Verhoevens „Benedetta“ habe ich gerade eine Nonne gespielt. Ich werde die Mutter Oberin der Zukunft, jawohl.

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