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Das "Nase"-Ensemble in der Inszenierung von Barrie Kosky an der Komischen Oper.

© Iimago/Martin Müller

"Die Nase" an der Komischen Oper: Mannes Kraft

Richtiger Riecher: Barrie Kosky inszeniert Schostakowitschs „Die Nase“ an der Komischen Oper als schrille Großstadtgroteske.

Ein irrwitzigeres Musiktheater ist nie komponiert worden. 1927 beschließt der Komponist Dmitri Schostakowitsch, der russischen Oper Anschluss an die Avantgarde der jungen Sowjetunion zu verschaffen. Er ist 21 Jahre jung und platzt geradezu vor Tatendrang, das Studium hat er mit einer Sinfonie abgeschlossen, die sofort international Furore macht. Zudem konnte er als Stummfilmpianist bereits Erfahrungen mit dem neuesten Wundermedium machen.

Nun sprengt er die Konventionen der Gattung. In ihrer Radikalität ist „Die Nase“, 1930 uraufgeführt in Leningrad, nur mit dem Skandalbild des „Schwarzen Quadrats“ des Suprematismus-Erfinders Kasimir Malewitsch zu vergleichen. Bildungsbürger wie Nomenklatura sind verwirrt, nach nur 16 Vorstellungen verschwindet das Stück vom Spielplan, für Jahrzehnte. Erst 1963 kommt die „Nase“ wieder auf die Bühne, im Westen, in Düsseldorf. Unter den Linden wagt Intendant Hans Pischner 1969 eine Produktion, in Schostakowitschs Heimat wird sein Opernerstling erst 1974 rehabilitiert, ein Jahr vor dem Tod des Komponisten.

Jetzt also hat Barrie Kosky sich des Stoffes angenommen. In London hatte seine Produktion Premiere, nach einem Zwischenstopp im australischen Sydney ist sie an diesem Berliner Opern-Wochenende an der Komischen Oper angekommen, in einer gewitzten deutschen Textfassung von Ulrich Lenz. Und wird auch hier gefeiert.

Es ist aber auch das ideale Stück für Barrie Kosky, bei dem der Intendant der Komischen Oper alle seine Trümpfe ausspielen und einen überwältigenden Strudel der Bilder inszenieren kann. Mit der rückhaltlosen Unterstützung seiner fantastischen Berliner Mitspielerinnen und Mitspieler, den virtuos wuselnden Chorsolisten, den 28 Solisten, die sich 78 Rollen teilen. Jens Larsen glänzt unter anderem als brummeliger Barbier, Ivan Tursics Diener Iwan hat den typischen Tenor-Tick, Spitzentöne immer so lange auszureizen, bis auch der letzte im Saal verstanden hat, wer hier der Größte ist.

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Und natürlich ist auch Choreograf Otto Pichler wieder mit von der Partie, ganz im Sinne des Schostakowitsch-Zeitgenossen Wsewolod Meyerhold, der wusste: „Nur mit Hilfe des Tanzes ist es möglich, groteske Konzeptionen einer dekorativen Aufgabe unterzuordnen.“ Das Ballett der zirzensischen Zinken, bei dem elf Menschen in riesigen Pappmaché-Nasen stecken und einen fulminanten Stepptanz vollführen, wird zum Höhepunkt dieser entfesselten Varieté-Performance.

Die literarische Vorlage stammt von 1836 und ist purer Surrealismus avant la lettre. Nikolai Gogol hat sie erdacht, und sie beginnt fast wie Kafkas „Verwandlung“: Als Platon Kusmitsch Kowaljow eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht, findet er sich nämlich in seinem Bett zu einem Menschen ohne Nase verwandelt. Der Kollegienassessor, auf halbem Karriereweg in der zaristischen Bürokratie, ist fassungslos: So kann er sich bei seinen Vorgesetzten nicht sehen lassen! Auf dem Polizeipräsidium aber mag man ihm ebenso wenig helfen wie in der Anzeigenabteilung einer Tageszeitung.

Unterdessen hat die Gattin des Barbiers zu ihrem großen Schreck die Nase im Brotteig gefunden. Von Ekel geschüttelt, beauftragt sie ihren Mann, das Organ in der Newa zu entsorgen. Doch es entsteigt dem Fluss, auf Menschengröße gewachsen, und beginnt, selbstbewusst durch die Straßen zu stolzieren. Bei einer Trauerfeier sieht Kowaljow die Nase und bittet sie inständig um Rückkehr in sein Gesicht – was diese jedoch verweigert. Auch ein HNO-Arzt kann später nicht helfen. Als der Assessor die Hoffnung schon aufgegeben hat, stellt er tags darauf fest: „Das Ding ist wieder dran!“

Die Nase eines Mannes: Es geht bis zum Komplex der Kastrationsangst

Was Barrie Kosky in Klaus Grünbergs neutral-grauem Bühnenkasten veranstaltet, überzeugt durch schier grenzenlose Fantasie. Und für das Problem, wie er bei seinem Protagonisten die Nase verschwinden lassen kann, hat er einen verblüffend einfachen Kniff gefunden: Er stattet einfach alle Mitwirkenden mit extragroßen Riechkolben aus und definiert diesen Zustand somit als „normal“. Mit seiner normalen, nur eben blutrot angemalten Nase ist Kowaljow dann sofort als Außenseiter zu erkennen.

Wirklich bewundernswert aber ist, wie es dem Regisseur gelingt, inmitten der schrillen Großstadtgroteske dann doch ein wenig Mitleid für seinen Protagonisten zu erregen. Koskys Kowaljow ist nicht nur eitel und von Ehrgeiz zerfressen. So wie Günter Papendell ihn mit grandioser Körperlichkeit spielt – und mit seinem geschmeidigen Heldenbariton singt – bekommt er eine menschliche Dimension. Der dumme Spruch „von der Nase eines Mannes“ weitet sich bis hin zum Komplex der Kastrationsangst, die Jagd nach dem verschwundenen Körperteil wird zu Kowaljows persönlicher Johannes-Passion.

Ainars Rubikis als designierter Musikchef legt einen Kavalierstart hin

Da nimmt dann auch Dirigent Ainars Rubikis im Orchestergraben Rücksicht, lässt leise und bitter spielen. Im nächsten Moment aber geht der Krach wieder los, die lustvolle Kakofonie in Loveparade-Lautstärke, bei der ununterbrochen atonale Passagen, Walzer, Polkas, Sakralgesang, singende Sägen, pupsende Posaunen und zukunftstrunkene Maschinenmusik durcheinander wirbeln.

Der designierte Musikchef des Hauses, der sein Amt im Herbst antreten wird, legt hier einen echten Kavaliersstart hin, reizt das klingende Tohuwabohu des jungen Wilden Schostakowitsch bis aufs Äußerste aus – und vermittelt trotzdem stets den Eindruck, das Chaos souverän zu überblicken. Beim tumultuösen Zwischenspiel nach dem 1. Akt, das die Perkussionisten alleine bestreiten, fliehen einige Musiker aus dem Orchestergraben. Sie kehren wieder und stürzen sich erneut ins schrille Geschehen, mit einer tollkühnen Hingabe, wie man sie nur hier erlebt.

Wer nach diesem Abend erst schlecht einschlafen kann, dann verrückte Sachen träumt und schließlich mit Herzrasen aufschreckt, muss sich nicht wundern. Knocked out by Dmitri Schostakowitsch.

- Komische Oper Berlin. Wieder am 24., 28. und 28. Juni sowie am 6. und 14 Juli

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