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Zeitschriften: Die Sonnen von Minsk

Belarus ist für viele immer noch Terra incognita. Eine Reihe von Zeitschriften macht uns nun mit der Literatur dieses Landes bekannt.

Von Gregor Dotzauer

Heute ist es ihm ein Rätsel, was ihn mit Anfang 20 trieb, Weihnachten möglichst weit weg von der Familie zu verbringen. Martin Pollack, als Österreicher schon zu Internatszeiten mit einem osteuropäischen Sehnsuchtsvirus infiziert, kam zwar nur bis Augustów, einer traurigen Kleinstadt in der polnischen Woiwodschaft Podlachien. Doch der Wodka, den er hier zusammen mit anderen verlorenen Seelen im einzigen geöffneten Restaurant gleich flaschenweise tankte, brachte ihn zumindest kulturell noch über die Grenze. Was seine zur belarussischen Minderheit gehörenden Trinkgefährten aus Angst vor Diskriminierung damals bloß flüsternd zu berichten wagten, weckte bei ihm die Neugier auf ein Land, das den Polen längst nicht mehr so fremd und gefährlich erscheint wie einst. Die Schnapsidee hatte bei Pollack eine Zuneigung geboren, die seit bald einem halben Jahrhundert anhält.

Ihre jüngste Folge ist ein Dossier, das der promovierte Polonist zusammen mit dem Übersetzer Thomas Weiler in Heft 461/462 der Zeitschrift „Literatur und Kritik“ kuratiert hat (Otto Müller Verlag, Salzburg, 10 €). Unter den 15 Autoren und Autorinnen begegnet man dem 1936 geborenen Sakrat Janovic, einem Prosaminiaturenschnitzer, der am Ostrand von Polen, in seinem Heimatdorf Krynki, die Sache der rund 9,5 Millionen Belarussen aus der Diaspora heraus betreibt – unter anderem als Herausgeber der alljährlichen Anthologie „Annus Albaruthenicus“. Man kann die spitzzüngige Dichtkunst des 1973 geborenen Andrej Chadanovic kennenlernen, der in Minsk dem belarussischen PEN vorsteht, und alte Bekannte treffen wie den lyrischen Kürzest-Artisten Ales Razanau, der nach Jahren als Stipendienreisender wieder in seine Heimat zurückgekehrt ist. Natürlich ist auch Pollacks Freund Alhierd Bacharevic mit dabei, der vor Lukaschenkos autoritärem Regime nach Hamburg emigrierte und 2010 im Leipziger Literaturverlag den Roman „Die Elster auf dem Galgen“ veröffentlichte.

Die Lebendigkeit vieler Texte lässt sich nicht übersehen – allerdings auch nicht, dass sie, bei allen Unterschieden im Ton, in einer Welt angesiedelt sind, die aus der mitteleuropäischen Zeit gefallen ist: ländlich im Gepräge, seltsam todesfixiert und von einer ironisch maskierten politischen Widerborstigkeit, die man doch nicht aufs schiere Rebellentum reduzieren darf. Selbst nach zwei Jahrzehnten der Unabhängigkeit orientieren sie sich offenbar noch an russischen Traditionen. Es ist auch kein Wunder, dass Pollack die belarussischen Geschicke über die Berichterstattung in Polens „Gazeta Wyborcza“ verfolgt. Von Westeuropa betrachtet, gelten hier noch halbwegs vertraute Standards. Und ist es nicht auch für die von Pollack am meisten hervorgehobene, trotzdem nicht vertretene Dichterin, die wunderbare Valzyna Mort, der Blick von außen, von der University of Baltimore aus, der ihr Belarus am besten zeigt?

Im multimedialen Onlinemagazin „Radar“ (www.e-radar.pl), das sich in seiner jährlichen Druckausgabe (kostenlos über maja.pflueger@bosch-stiftung.de) neben den gewohnten Territorien Polen und der Ukraine nun auch Belarus widmet, ist noch eine Reihe weiterer Dichter und Künstler vertreten – und mit Artur Klinau, Herausgeber des Minsker Magazins „pARTisan“ und Sänger seiner „Sonnenstadt der Träume“, eine Zentralfigur der Szene. Sein hier im Auszug gedruckter Roman „Schalom“ untersucht, wie weit das Konzept des totalen künstlerischen Aufstands trägt.

„Radar“ operiert von Krakau aus. „Drei Sprachen, drei Nationen, drei Literaturen“, lautet das Programm. „Oder vielleicht anders? Drei Sprachen, mehr als drei Nationen und nur eine Literatur. So entstand die Idee zu einer internationalen Literaturzeitschrift, die auf Deutsch, Polnisch und Ukrainisch erscheint.“

Auch das Dresdner „Ostragehege“ (www.ostra-gehege.de) stellt in Heft 65 (84 S., 4,90 €) Lyrik aus der Dreiländerregion vor, darunter sechs Dichter und Dichterinnen aus Belarus, die auch in „Literatur und Kritik“ zu finden sind. Als Grundlage empfiehlt sich indes das vom Berliner Netzwerk für Osteuropaberichterstattung mit CD-Beilage herausgegebene Länderheft (www.n-ost.org/belarusheft, 114 S., 6 €). Hier berichtet unter anderem Ute Zauft, warum der Arabellion noch keine Rebellarussion gefolgt ist.

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