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Wut findet immer einen Weg, um sich auszudrücken. Im schlimmsten Fall durch einen Nervenzusammenbruch.

© imago

Die vielen Seiten eines Gefühls: „Ohne Wut findet keine Veränderung statt“

Wut hat einen schweren Stand in der Gesellschaft. Dabei kann sie im besten Fall eine Energiequelle sein. Ein Gespräch mit Coachin Friederike von Aderkas.

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Friederike von Aderkas ist Pädagogin und Coachin in Bad Belzig. In Seminaren und Einzelbegleitungen fokussiert sie sich auf die praktische Arbeit mit Wut. Zuletzt veröffentlichte sie das Buch „Wutkraft“ (Beltz, 256 Seiten, 17,95 Euro).

Frau von Aderkas, Sie sagen, dass die Arbeit mit Wut ihre Berufung sei. Das klingt zunächst befremdlich. Wie kam es dazu?
Im Jahr 2013 ist mein Bruder durch Suizid aus dem Leben gegangen. Unter anderen Gefühlen ist viel Wut in mir hochgekocht, nicht zuletzt, weil er sich entschieden hatte zu gehen. In der Auseinandersetzung mit meiner Lebensgeschichte wurde mir klar, dass Wut bei uns zu Hause keinen Platz hatte.

Meinem Bruder ist es schwergefallen, seine Wut auszudrücken oder für sich einzustehen. Ich beobachtete, dass es vielen so geht. Heute möchte ich Wut einen bewussteren Platz in der Gesellschaft geben. Einen Ausdruck sucht sie sich in jedem Fall. Ob gegen mich selbst, zerstörerisch nach außen, passiv aggressiv, in Form von Rache oder durch Positionierung und Klarheit.

Was ist das eigentlich für Sie, diese Wut?
Eines von vier Grundgefühlen des Menschen. Neben Freude, Trauer und Angst. Unter diesem Gefühl kann ich auch Ärger, Zorn und Rachsucht einsortieren. Oft wird sie negativ bewertet, sie ist aber zunächst eine neutrale Energie. Wut ist mehr als Rumschreien. Es kann auch ein ruhiges Veto sein. Der kleinste Ausdruck ist, einen Fussel vom Pullover zu zupfen. Der passt mir da nicht, also soll er weg.

Warum haben wir ein so schwieriges Verhältnis zur Wut?
Viele Generationen vor uns haben Erfahrungen mit Krieg gemacht. Sie erlebten Zerstörung und Gewalt als Ausdruck der Wut. Es gibt sie, diese Schattenseite. Daneben steht ihre Kraft, die ich nutzen kann, um mitzuteilen, wenn etwas für mich nicht stimmt. Wenn ich nur den destruktiven Teil sehe, dann will ich damit nicht konfrontiert werden und werte sie ab.

Sie sagen, dass moderne Gesellschaften darauf angewiesen sind, dass der Mensch die Wut im Unbewussten hält?
Ich denke, unsere Form der Gesellschaft hat etwas davon, dass viele sie nicht fühlen. Taubheit ermöglicht es, zu funktionieren und nicht zu hinterfragen. Wenn ich Frust habe, kann ich diesen zum Beispiel mit Konsum oder Computer spielen dimmen. Bewusste Wut zu fühlen und auszudrücken, ist dagegen eine Immunisierung gegen jegliche Form von Verführung. Dann nutze ich meine Energie und setze mich positiv für etwas ein, statt nur dagegen zu sein.

Bewusst. Friederike von Aderkas sieht in Wut ein Werkzeug.
Bewusst. Friederike von Aderkas sieht in Wut ein Werkzeug.

© C. Meyer/I. Pfafferott

Paradox, wir geben der Wut keinen Platz und nun begegnet sie uns an jeder Ecke.
Um das zu verstehen, hilft die Unterscheidung zwischen dem Gefühl und der Emotion. Das Gefühl ist für mich eine situative Reaktion: „Das stimmt für mich nicht.“ Das fällt vielen schwer. Dabei ist es nur eine Energie, die mich anleitet, für Veränderung einzustehen und meist nur wenige Minuten anhält. Diese Emotion ist ein unterdrücktes Gefühl, das ich einmal nicht ausleben durfte.

Wenn es keine Ausdrucksmöglichkeit gibt, staut sich Wut im System. Das können Kindheitstraumata sein, aber auch Erfahrungen aus jüngerer Vergangenheit. Durch einen kleinen Auslöser kann es sein, dass jemand heftiger explodiert, als es der Situation angemessen ist.

Angesichts der Bilder von Krawallen könnte man denken, dass es gut wäre, würden wir Kindern die Wut aberziehen.
Werden Kinder zu Ja-Sagern erzogen, ist die Konsequenz eine funktionierende und dabei gleichzeitig träge Gesellschaft. Das Leben bleibt gleichförmig. Wut ist eine Energiequelle. Sie macht wach, präsent und klar. Ohne sie findet keine Veränderung statt. Das Gehirn möchte Kohärenz. Aber Wachstum und Entwicklung finden nur in der Reibung von unterschiedlichen Positionen statt. Dadurch, dass ich einen anderen Standpunkt als meinen kennenlerne.

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Welche Probleme mit Wut begegnen Ihnen in Ihrer praktischen Arbeit?
Vor allem Vorurteile, Definitionen und Abwertungen. Plakativ gesagt: Der eine hat es leicht, seine Wut maximal auszudrücken und fällt in die Zerstörung – von Beziehungen, Jobs oder Gegenständen. Während andere die eigene Wut so gut wie gar nicht spüren. Bei diesen wabert dann die Unzufriedenheit im Untergrund und zieht konstant Energie. Denn nicht für die eigenen Bedürfnisse einzustehen, ist ebenfalls sehr anstrengend.

Wie bringen Sie Menschen wieder zu einem gesunden Verhältnis zur Wut?
Mir geht es nicht darum, die Wut wegzutrainieren, sondern eine Tür zu öffnen, diese bewusst und reflektiert einzusetzen. Das fängt bei der Frage an: Wie habe ich gelernt, Wut zu lesen? In Seminaren biete ich neben den leisen Tönen der Wut, wie Klarheit, Positionierung und Entscheidungsfähigkeit, auch die Möglichkeit, den eigenen Wutausdruck kennenzulernen und sich abzugrenzen.

Für Menschen, die sich immer runtergedimmt haben, heißt es dann auch mal: Vollgas, raus damit! Im Austausch sind Menschen oft erstaunt, wie wohltuend es sein kann, jemanden in der Wut zu bezeugen. Da ist ein lebendiges Wesen! Und sie lernen: Ich kann meine Wut voll ausdrücken, ohne, dass ich mein Gegenüber verletze oder Dinge zerstöre.

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