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Keine klassischen Musicalthemen. Eine Mutter (Sarah Schütz) entlässt ihre geistig behinderte Tochter (Anna Preckeler) ins raue Leben.

© Pawel Sosnowski

Die Zukunft von Musicals: Raue Töne im Märchenland

Broadway-Musicals sind zurück in der Mitte der Popkultur und werden immer mutiger. Deutschland droht den Trend zu verschlafen – mit wenigen Ausnahmen.

Darf eine geistig behinderte junge Frau frei entscheiden, wenn sie liebt? Darf eine Mutter es riskieren, sie nicht mehr zu beschützen, obwohl sie schuld war an jenem Unfall, der die Behinderung einst auslöste? Das sind die Themen des Broadway-Musicals „Das Licht auf der Piazza“. Keine klassischen Musicalthemen, die die Landesbühnen Sachsen in Radebeul bei Dresden jetzt anpacken, in der deutschen Erstaufführung des Stücks von Adam Guettel. Der Enkel des Musicalpioniers Richard Rodgers hat eine der schönsten Broadway-Partituren der vergangenen 30 Jahre geschaffen, die in Radebeul in einer exzellenten Produktion zu erleben ist.

Nach vielen Jahren Flaute hat der Broadway in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine Renaissance erfahren, ökonomisch beflügelt durch Disneys Einstieg in das Business und mit Stücken von „The Book of Mormon“ (2011) bis „Hamilton“ (2016). Der Broadway ist zurück in der Mitte der Popkultur. Aber auch künstlerisch ist etwas in Bewegung geraten. Nicht nur „Movicals“, also die Übertragung von Blockbuster-Filmen auf die Bühne, und Jukebox-Musicals, in denen die Handlung um Hits früherer Popgrößen gestrickt ist, finden sich unter dem guten Dutzend Premieren pro Saison. Fast jede Spielzeit bringt in New York inzwischen auch engagiertes Musiktheater. Kein Zeichentrick, keine Cinderellamärchen, sondern Probleme mitten aus dem heutigen Leben.

Psychische Erkrankungen durch Traumaerfahrung etwa in „Next to Normal“ (2009). Homosexualität und gesellschaftliche Repression in „Fun Home“ (2015). Jugendsuizid in „Dear Evan Hansen“ (2017) oder gar der Nahostkonflikt in „The Band’s Visit“ (2017). Engagierte Arbeiten im Kontext privaten, nachfrageabhängigen Musiktheaters, das geht inzwischen wieder am Broadway, trotz des Drucks von Produktionskosten, die in New York nie unter mehreren Millionen liegen.

Schmaler Grat zwischen Unterhaltung und Anspruch

„Das Licht auf der Piazza“ von 2005 gehört in diese Rubrik. Ein von gesellschaftlichen Tabus und Klischees überformter Themenkomplex, hart, deprimierend, aber leicht erzählt, mit Sehnsucht und viel Sinn für Komik und Absurdität. Wie viele aktuelle Broadway-Musicals dieser ambitionierten Art braucht auch „Das Licht auf der Piazza“ exzellente Darsteller – nicht nur stimmlich, sondern vor allem auch schauspielerisch –, um den schmalen Grat zwischen Unterhaltung und Anspruch erwischen zu können. Die Landesbühnen Sachsen bieten für ihre Produktion jetzt bis in die Nebenrollen hinein ein beeindruckendes Ensemble auf. Das illustriert, wie weit die Musicalausbildung in Deutschland in der Zwischenzeit gekommen ist. Den Musicalboom der 90er Jahre trugen noch weitgehend ausländische Akteure.

Aus Sicht der Repertoireentwicklung im Musical ist entscheidend, dass Werke wie „Das Licht auf der Piazza“ so aufgeführt werden, dass das ganze Potenzial der neuen Stücke sichtbar wird. Denn die Repertoireentwicklung hinkt der Entwicklung im Bereich der Darsteller noch deutlich hinterher. Das überrascht angesichts des Bedarfs an Musicals für die deutschsprachigen Bühnen. Dieser Markt ist aufführungsseitig nämlich inzwischen der drittgrößte der Welt. Pro Spielzeit werden etwa 150 verschiedene Musicals in Deutschland gegeben, entstehen rund 300 Inszenierungen mit 8000 Aufführungen, die über zwei Millionen Zuschauer erreichen. Selbst im Bereich der gut 150 öffentlich subventionierten Theater werden mittlerweile gut 20 Prozent aller Aufführungen mit Musicals bestritten. Die Auslastungsquote liegt bei 85 Prozent. Das Musical ist zu einem zentralen Faktor im deutschsprachigen Musiktheater geworden, auch abseits der ganz wenigen auf dieses Genre spezialisierten privaten Musiktheaterunternehmen, allen voran der Stage Entertainment.

Das Repertoire stammt weiterhin aus dem Ausland

Trotz jährlich 25 Uraufführungen und manch eigenem Hit von „Tanz der Vampire“ bis „Heiße Ecke“ stammt das Repertoire aber weiterhin aus dem Ausland. Der rasanten Entwicklung seit den 90er Jahren steht dabei eine konservative Importpolitik gegenüber. Das private Musicaltheater konzentriert sich auf Stoffe von Disneys Megamusicals, Jukebox-Musicals, Movicals und Eigenproduktionen in gleicher Machart. Das öffentliche Musicaltheater wiederum greift überwiegend – wie in der Oper auch – auf erprobtes Repertoire zurück.

Vornan stehen die Klassiker „My Fair Lady“ (1956), „Fiddler on the Roof/Anatevka“ (1964) und „Cabaret“ (1966), gefolgt von Stücken wie „Kiss Me, Kate“ (1948) oder „West Side Story“ (1957). Diese in mehrfacher Hinsicht dominierende konservative Auswahl der Stoffe prägt das Bild vom Musical in Deutschland, genauso wie die Machart der großen europäischen Musicals von „Cats“ bis „Les Misérables“, mit denen das Genre hierzulande in den 1990er Jahren groß geworden ist.

Künstlerisch ambitioniertes, zeitgenössisches amerikanisches Musical erreicht hingegen erst mit langer Verzögerung die hiesigen Bühnen – wenn überhaupt. Das schadet dem Image des Musicals, das auf diese Weise nur selten als engagiertes Musiktheater mit künstlerischem Anspruch und gesellschaftlicher Relevanz wahrgenommen wird.

Es gibt auch klassische Broadway-Partituren

Musicals sind Tourismus. Und Eskapismus. Aber sie bieten auch eine neue, andere Seite. Von privat finanzierten Bühnen kann man vielleicht nicht erwarten, dass sie das Risiko härterer Stoffe eingehen. Von öffentlichen aber schon. Und man sieht in den Spielplanstatistiken einen Trend insbesondere bei ausgewählten kleinen und mittelgroßen Regionaltheatern, mehr Vielseitigkeit im Repertoire und in der Aktualität zu wagen. Auch wenn der Lizenzierungsprozess oft beschwerlich ist. Und man dem Publikum unbekannte Ware zu verkaufen hat.

Dabei gibt es Partituren in besagtem Broadway-Trend, die nicht Rock sind wie bei „Spring Awakening“ oder Hip-Hop wie bei „Hamilton“, sondern Stücke für den klassisch besetzten Orchestergraben. Und damit für den typischen Stadttheaterbetrieb adaptierbar, ganz wie „My Fair Lady“ oder „West Side Story“. Das führen die Landesbühnen Sachsen mit Guettels „Das Licht auf der Piazza“ vor. Ästhetisch liegt das Stück irgendwo zwischen Sondheim und Puccini, ist kunstvoll komponiert, exzellent orchestriert, dramatisch, effektvoll und es behandelt ein wichtiges Gesellschaftsthema ausgesprochen kurzweilig. Was kann man mehr erwarten?

„Das Licht auf der Piazza“ wird bei den Landesbühnen Sachsen, Radebeul, wieder am 26. 10., 4. 11., 7., 14. und 28. 12. gespielt.

Frédéric Döhl

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